Montag

"Tausche Karriere gegen erfülltes Leben"

Laut dem New Oxford Dictionary of English bedeutet "Downshifting" den "Tausch einer finanziell attraktiven, aber stresserfüllten Karriere gegen eine weniger anstrengende, aber mehr erfüllende Lebensweise mit geringerem Einkommen". Die Bewegung, die ihren Namen in den neunziger Jahren bekam, hat ihren Weg in den Mainstream des britischen Lebens gefunden. Studien zufolge denken 40 Prozent aller Angestellten unter 35 Jahren über den Ausstieg nach. Bis 2007 sollen etwa 3,7 Millionen Briten "downshiften".
Von Frank Jahn, NDR London
Wenn im Wald von Oxford einer mit dieser Aussicht aufwacht, hat er zumeist den Weg vom Pub nicht nach Hause gefunden. Hugh Sawyer war in der Tat gestern lang unterwegs gewesen, aber verirrt hat er sich nicht. Der Angestellte lebt im Wald. Freiwillig. Seine Wohnung in London hat er aufgegeben. Zu viel Ballast, sagt er. Er hat das Wort Luxus aus seinem Leben gestrichen. "Downshifting" nennen das die Briten. "Zentralheizung, fließend Wasser und einen Toaster habe ich jetzt nicht mehr. Und Schränke für meine Sachen fehlen auch. Ich habe nur noch das, was ich tragen kann", sagt Sawyer. Dafür habe er aber Freiheit gefunden und eine Verbindung zur Natur. "Ich fühle mich glücklicher als je zuvor."
Schlafsack und Matter versteckt er im Baum. Dann muss er los. Hugh will den Bus nach London erwischen. Zur Arbeit. Er will mit wenig auskommen, ein Aussteiger ist er nicht. Hugh ist Auktionator bei Sotheby's. Hier duscht er und schlüpft in den Anzug, der frisch aus der Reinigung kommt. Die Ironie: Er verhilft anderen zu mehr Besitz und hat selbst gerade mal das Hemd am Leib.

Kein Konsumrausch, keine Karriere
Schuften für Shoppen. Das ist nichts für die so genannten Downshifter. Zweieinhalb Millionen Briten verzichten nicht nur auf Konsumrausch, sondern auch auf Karriere, sagen Umfragen. Sarah Stevenson hat London gegen Brighton getauscht. Sie verdiente als Werbefrau 6000 Euro im Monat. Bis sie bei einem Geschäftsessen die Sinnkrise bekam. "Ich wusste, er kann mich nicht leiden. Ich konnte ihn nicht ausstehen. Er war mein Kunde und beim Essen redeten wir über Geld, das nicht uns gehört, das von einer Tasche in die nächste wanderte. Ich dachte, was tue ich hier eigentlich mit meinem Leben? Ich hasse es, mit ihm hier zu sitzen. Und ich begriff, das ist nicht mein Ding."
Im Hafen von Portsmouth managt die 35-Jährige heute einen Spendenmarsch. Sie arbeitet nun für eine Hilfsorganisation und verdient damit halb so viel wie früher. Aber an der Küste lebt sie billiger und dieser Job ergibt für sie Sinn. Die Einnahmen helfen Kindern mit Hüftschäden. "Erfolg in meinem früheren Leben hieß, ich habe einen Werbevertrag perfekt gemacht. Es ging um Geld irgendwelcher Klienten. Das ist so oberflächlich im Vergleich. Das hier macht einen großen Unterschied. Deshalb fühle ich mich viel besser bei dem, was ich jetzt mache."

Zahl der Downshifter steigt
Eine Million Briten wollen sich allein im kommenden Jahr aus dem Trott von Überstunden und Selbstausbeutung verabschieden, schätzen unabhängige Studien. Für ihren Platz im Hamsterrad gibt es genug Arbeitssuchende, die gern auf Freizeit verzichten. Es sei nicht ökonomisch, meint Wirtschaftsprofessorin Diane Perrons aus ihren Jobstudien, wenn Angestellte jahrelang unter Dauerstress stehen und dann ganz hinwerfen. Den Downshifting-Trend sollten Bosse ernstnehmen, sagt sie. Zum eigenen Vorteil.
"Eine Auszeit nehmen, das sollte möglich sein. Angestellte sollten mal sechs Monate nicht in der Firma sein und dann zurückkommen können", sagt Perrons. So verliere die Firma nicht, was sie in den Mitarbeiter investiert hat. Und sie habe einen Angestellten, der zufriedener ist, weil er in Südamerika war oder eine Weltreise gemacht hat. Im Internet gibt es "Nationale Downshifting Wochen" für den Anfang. Versicherungskonzerne bieten Sparpläne für den Tag an, an dem man "ready" ist, reif fürs Downshifting.

Kein Drang mehr aufs Powershopping
Sarah Stevenson kann sich Powershopping und Wellness-Wochenenden nicht mehr leisten. Aber es ist der Sinn der Sache, dass sie das in ihrem neuen Leben nicht mehr braucht. "Früher stand ich früh auf, fuhr stundenlang zur Arbeit, war ewig im Büro. In einer sehr stressigen Umgebung. Das war allein körperlich schon nicht gut für mich. Ich habe viel Geld darauf verschwendet, mich zu erholen, besser zu fühlen. Der drastische Wechsel meines Lebensstils bedeutet, dass ich dafür mein Geld nicht mehr ausgeben muss."

Zimmer mit Aussicht
Auf Sparflamme wie Hugh muss ein Downshifter nicht leben. Der 33-Jährige hat den Verzicht auf die Spitze getrieben. Ein Jahr hält er es nun bereits im Wald aus. Hugh will nicht für immer ein Einsiedler sein. Die Liebe zur Natur muss die Traumfrau aber teilen. Wenn er mal ein Mädchen treffe, schwärme er, erzählt Hugh. Dann sagt er: "Ich wohne auf dem Land, tolle Aussicht, großer Garten, offenes Feuer. Vielleicht stehen da ja manche drauf. Wer weiß schon, was Frauen wollen."
Bei aller Lagerfeuer-Romantik warnt Hugh die Nachahmer: Im Winter gibt es im Wald keine warme Dusche. "Ich glaube, wer auch nur halb bei Verstand ist, zieht nicht in den Wald. Aber jeder kann auf seine Art in seinem Leben herausfinden, was ich gelernt habe: weniger ist viel mehr." Heute Abend bleibt Hugh mal zuhause und genießt, worauf selbst ein Downshifter nicht verzichten kann: Eine Tasse englischen Tees.
Stand: 11.09.2006 03:08 Uhr
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