Donnerstag

Migration: Und tschüs ...

Von Julia Bonstein, Alexander Jung, Sebastian Matthes und Irina Repke

Die Jobaussichten sind schlecht, die Steuern hoch, die Bürokraten nervig: Immer mehr Deutsche haben genug von ihrem Land, sie wandern aus. Und meist sind es die Qualifizierten, die gehen. Mit ihnen verschwindet wertvolles Wissen, die wirtschaftlichen Folgen sind fatal.

Sie sind es satt, so satt. Dieses ewige Gezänk um Lohnnebenkosten, Sozialreformen, Subventionsabbau, Ladenschluss und all die anderen Symbole einer blockierten Republik.

Frank Pigorsch, 45, Maurermeister aus Harsefeld, mit seiner Frau Birgit und den Kindern Aaron und Johannes, heute in Calgary: "Mit Mitte 40 ist das die letzte Chance."

Frank Pigorsch, 45, Maurermeister aus Harsefeld, mit seiner Frau Birgit und den Kindern Aaron und Johannes, heute in Calgary: "Mit Mitte 40 ist das die letzte Chance."
Sie sind es leid, in einem Land zu leben, in dem es einem Lotteriespiel gleicht, einen Krippenplatz zu ergattern - einem Land, in dem nicht einmal die Hälfte der Menschen von Erwerbsarbeit lebt. Und in dem selbst Akademiker mit Mitte 40 bereits als schwer vermittelbar gelten; einem Land also, in dem alle Chancen verteilt scheinen: auf beruflichen Erfolg, auf Eigentum, auf Wohlstand.

Deshalb wollen sie weg. Nichts wie weg. Dorthin, wo sie eine bessere Zukunft vermuten. In die Dritte Welt zum Beispiel, nach Indien.

René Seifert, 35, ist noch immer wie berauscht von Bangalore, der aufstrebenden Metropole des Subkontinents, wo sich nachts die jungen Programmierer in den Tanzlokalen drängeln und tagsüber Autos die Rikschas überholen und Rikschas die Kühe - und doch alles irgendwo seinen Platz findet. Seifert liebt dieses Chaos. "Das Pulsierende in Asien, die positive Grundstimmung und die vielen Möglichkeiten faszinieren mich", schwärmt er.

Seifert, ein diplomierter Kaufmann, der früher Unterhaltungschef beim Internet-Portal Lycos Europe war, hat mit ein paar tausend Euro Startkapital eine Firma in Bangalore gegründet, er berät deutsche Mittelständler, die sich hier ihre Buchhaltung erledigen lassen wollen. Dass er irgendwann einmal nach München zurückkehren wird, kann er sich kaum vorstellen: "Hier geht es doch jetzt erst richtig los."

Ähnlich empfindet es der Mediziner Frank Naumann, 38, der zusammen mit seiner Frau vor den "miserablen Arbeitsbedingungen zu Hause" nach Österreich geflüchtet ist: "Vom Nordkap bis zu den Emiraten sind deutsche Ärzte gefragt, weshalb sollte ich da in Cottbus bleiben?"

Sechs Jahre lang wurde der Facharzt an einer Cottbuser Klinik mit Zeitverträgen vertröstet. Es war höchst ungewiss, wann er je zum Oberarzt aufsteigen würde. Die Naumanns zogen die Konsequenz: Sie siedelten über ins Salzburger Land, nun arbeitet er im Krankenhaus in Schwarzach, unbefristet und als Oberarzt. In Cottbus aber musste das Klinikum Notdienstpläne aufstellen, weil immer mehr Ärzte fehlten.

Fast jeder kennt heute Leute wie Seifert oder Naumann, die mitten im Leben neu anfangen wollen. Leicht fällt der Abschied wohl keinem, doch irgendwann ist der Frust so groß wie die Sehnsucht auf eine neue Zukunft. Selten haben sich so viele Menschen in Deutschland dafür entschieden, alles hinter sich zu lassen: Haus und Hof, Eltern und Tanten, Freunde und Kollegen.

Genau 144.815 Deutsche sind im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt fortgezogen, das ist fast ein Viertel mehr als 2002. Zugleich kehren immer weniger aus dem Ausland zurück, zuletzt waren es 128.052. Erstmals seit einer Generation wandern wieder mehr Deutsche aus als ein. Und das sind bloß die offiziellen Zahlen.

Vermutlich gibt es etwa noch mal so viele Fortzügler, die es versäumen, sich bei ihrer Gemeinde abzumelden. Längst sind es nicht mehr nur Aussteiger, Steuerflüchtlinge oder Prominente, die sich auf und davon machen. Heute zieht es Internisten nach Norwegen, Ingenieure in die USA, Agrarwissenschaftler nach Neuseeland. Deutschland, kein Zweifel, wird zum Auswanderungsland.

Der typische Emigrant ist im besten Alter, zwischen 25 und 45, hat eine ordentliche Ausbildung genossen und schon Karriere gemacht. "Wer geht, ist häufig hoch motiviert und gut ausgebildet", sagt Stefanie Wahl vom Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft. Ganz anders verhält es sich mit den Einwanderern: "Wer kommt, ist meistens arm, ungelernt und wenig gebildet." Genau hier liegt das Problem.

Immer mehr Menschen kehren Deutschland den Rücken, und zwar vor allem die Leistungsträger: Laut einer OECD-Studie verliert kaum ein anderer Industriestaat so viele Akademiker ans Ausland. Der Anteil der Promovierten liegt unter den Auswanderern zehnmal höher als im Schnitt der Bevölkerung. Und die Hälfte der Emigranten ist jünger als 35 Jahre: "Das ist ein Alarmzeichen", warnte vergangene Woche Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.

Zugleich aber kommen immer weniger Neubürger ins Land, und dann sind es häufig nicht gerade solche, die die Unternehmer besonders umwerben. Während Staaten wie Australien oder Kanada in erster Linie ins Land lassen, wen sie wirklich brauchen, qualifiziert in Deutschland die meisten Einwanderer lediglich die Tatsache, dass sie Familiennachzügler oder Spätaussiedler sind - eine Fehlsteuerung mit weitreichenden Folgen.

Der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar warnt vor einer Art "DDR-Effekt", wenn das Land ausgerechnet jene Kräfte verliere, die flexibel seien und offen für Neues. "Wenn wir nichts dagegen tun, werden sich die Probleme dieses Landes in einer Weise zuspitzen, wie sich das heute kaum jemand vorstellen kann."

Dem Rentensystem gehen Beitragszahler just zu einer Zeit verloren, da sich das Riesenheer der Babyboomer allmählich in den Ruhestand verabschiedet. Die demografische Krise verschärft sich, zumal ohnehin 2005 schon 144.000 mehr Menschen in Deutschland gestorben sind als geboren wurden und der Abstand zwischen Geburten und Sterbefällen weiter wächst.

Für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet die Abwanderung der Eliten ein gewaltiges Verlustgeschäft: Der Staat steckt Zigtausende Euro in die Ausbildung jedes Biologen, Informatikers oder Ingenieurs. Und dann verlassen diese Spezialisten frustriert das Land.

Von knapp 12.000 Medizinstudenten, die pro Jahr ihr Studium beginnen, arbeiten am Ende weniger als 7000 in Kliniken oder Praxen; von ihnen wiederum verlässt laut Marburger Bund knapp die Hälfte Deutschland. Die Ausbildung dieser etwa 3000 Ärzte kostet den Staat rund 600 Millionen Euro - und davon profitieren die Patienten in Großbritannien, Norwegen oder der Schweiz.

Letztlich schwächt der Export solchen Geistesvermögens den Standort. Vielen Unternehmen fehlen heute schon Fachkräfte, 16 Prozent der deutschen Firmen können nicht alle Arbeitsplätze besetzen, weil sie keine geeigneten Mitarbeiter finden. Allein im Maschinenbau gibt es derzeit rund 7000 offene Stellen für Ingenieure.

"Es kann nicht sein, dass vor allem Menschen auswandern, die für uns wertvoll sind, die gut ausgebildet und motiviert sind", beklagt DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche den "Brain Drain", wie Personalexperten den "Abfluss der Hirne" umschreiben. Zugleich, so fordert der Top-Manager, müsse der Staat eine andere Zuwanderungspolitik verfolgen: "Es sollten auch Menschen einwandern können, die uns helfen, unsere Probleme zu lösen."

Was früher wie ein exotischer Traum erschien, ist heute für viele eine durchaus realistische Option in ihrer Lebensplanung. Schon drei Millionen Deutsche leben mittlerweile im Ausland. Erst hat Deutschland, der Exportweltmeister, die Produktionsstätten verlagert, dann die Jobs. Jetzt folgen seine Bürger.

Manche treibt die Lust aufs Abenteuer in die Ferne. Andere haben die Nase voll von typisch deutschen Eigenheiten, dem Hang etwa, immer neue Regeln zu erfinden, wo gar keine nötig wären. Einige suchen einfach nur ihren Platz an der Sonne. Oft aber ist der wichtigste, im Wortsinn, Beweggrund eher ökonomischer Natur: Sie sehen in Deutschland keine berufliche Perspektive mehr und wollen sich dort eine neue Existenz aufbauen, wo ihre Arbeitskraft noch begehrt ist. Und das ist an erstaunlich vielen Orten der Welt der Fall.

Australien hat eigens eine Kampagne gestartet, um Fachleute aus Übersee zu werben, vom Friseur bis zum Mineningenieur. Auch Neuseeland sucht aktiv nach qualifizierten Kräften. Die meisten Auswanderer freilich scheuen den ganz großen Sprung. Ihnen ist es Wagnis genug, in einem der Nachbarstaaten neu zu starten.

In Österreich beispielsweise arbeiten inzwischen über 57.000 Deutsche. Auch die Schweiz wird immer beliebter: Schon jeder zehnte Auswanderer entscheidet sich für den Nachbarn im Süden, in kein anderes Land sind 2005 so viele Deutsche gezogen. Und dänische Arbeitsvermittler reisen extra zu Jobbörsen nach Deutschland, um gesuchte Kräfte zu rekrutieren.

Montagmorgen in der Zentrale der Hamburger Arbeitsagentur: Grith Tschorn vom dänischen Personaldienstleister Ramsdal sitzt vor ihrer rotweißen Nationalflagge. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel mit Arbeitsverträgen. Wer Schweißer gelernt hat, kann sofort unterschreiben, solche Leute engagiert sie fast blind.

"Hi, ich bin die Grith", grüßt sie den jungen Mann, der vor ihr Platz nimmt. "Hallo, ich heiße Ramon Berg", antwortet er, ein bisschen irritiert über die vertrauliche Anrede. "Was kannst du, Ramon?", kommt sie gleich auf den Punkt.

Ramon Berg, 29, aus Kiel kann einiges, er ist gelernter Gas- und Wasserinstallateur und diplomierter Bauingenieur. "Echt? Bauingenieur?", fragt die Dänin. "Ich weiß, ist schwierig", antwortet er kurz; er sieht schon seine Chancen schwinden. "Nein, das ist unheimlich leicht", unterbricht sie ihn, "wir suchen Bauingenieure, dringend." Sie habe bereits einen Arbeitgeber im Hinterkopf, in drei oder vier Wochen könne er da wohl anfangen.

So schnell ändern sich Lebensläufe.

Oft schon hatte Deutschland regelrechte Auswanderungswellen zu verkraften. Mitte des 19. Jahrhunderts, nach mehreren größeren Hungersnöten, lockten die Verheißungen der Neuen Welt Hunderttausende zu den Gestaden jenseits des Atlantiks. Im 20. Jahrhundert dann flüchteten sie erst vor Rezession und Inflation, später flohen sie vor dem Terror der Nazis, darunter solche Geistesgrößen wie der Physiker Albert Einstein.

Rund fünf Millionen Menschen verließen zwischen 1850 und 1939 ihre Heimat allein über den Hamburger Hafen. Die Emigranten kamen in der Regel aus kleinen Verhältnissen, es waren Bauern, Mägde, Tagelöhner. Sie waren beseelt von der Hoffnung, dass sie es woanders einmal besser haben könnten, zumindest aber ihre Kinder. Und deshalb gingen sie das ungeheure Wagnis ein.

Dagegen ist Auswandern in der grenzenlosen Welt von heute beinahe ein Kinderspiel.

Wer nach Helsinki, Dublin oder Sevilla übersiedelt, benötigt nicht mal eine Arbeitserlaubnis: Es ist mehr Umziehen als Emigrieren.

Heute ist jede größere Stadt der Erde innerhalb von 36 Stunden erreichbar. Ein Zehn-Minuten-Telefonat, egal wohin, kostet meist nicht mal einen Euro, per Internet noch weniger. Außerdem sind die Familienbande nicht mehr ganz so eng wie früher, meist führt jede Generation ihr eigenes Leben. Und so sind es heutzutage auch ganz andere Menschen, die einen neuen Pfad einschlagen.

Es sind Leute wie der Medienrechtler Rufus Pichler, 35: Der Jurist lebt in San Francisco, er arbeitet bei Morrison & Foerster, einer der größten Anwaltskanzleien der Welt, außerdem hat er an der Elitehochschule Stanford geforscht. Hierzulande sei eine solche Kombination kaum möglich, erzählt er: "Wenn man in Deutschland erst mal in einer Kanzlei sitzt, ist es mit der Uni-Lehre vorbei."

Pichler war an der Universität Münster wissenschaftlich tätig, dann hatte er "die Nase voll von den Strukturen", wie er sagt. Eigentlich wollte er nur ein Jahr in Stanford bleiben und dort seinen "Horizont erweitern"; sein Fachgebiet ist das Internet-Recht. In Stanford, im Silicon Valley, war er dafür genau am richtigen Ort. Er machte sich schnell einen Namen, dann bekam er von der Kanzlei in San Francisco eines dieser Angebote, denen man nicht widerstehen kann.

So etwas erleben viele Deutsche, die im Ausland studieren; ihre Zahl hat sich seit 1990 auf mehr als 62.000 fast verdoppelt: Erst planen sie, nur kurz ihre Heimat zu verlassen - dann finden sie Gefallen am Leben und Arbeiten in Boston oder Barcelona und bleiben auf unbestimmte Zeit. Inzwischen ist es schon für mehr als die Hälfte der deutschen Studenten laut einer Umfrage vorstellbar, sich im Ausland eine Existenz aufzubauen.

Vor allem Spitzenforscher nehmen gern die größeren Freiheiten in Anspruch, die ihnen das Ausland vielfach bieten kann. Der gebürtige Berliner Wolfgang Schönfeld, 50, beispielsweise hat sich vor zwei Jahren entschieden, seine Biotech-Gründerfirma Eucodis in Wien anzusiedeln. Zunächst hatte er auch München, Dresden oder Frankfurt am Main in Erwägung gezogen: "Aber da gab es immer einen Haken."

Schönfeld und sein Team haben ein Verfahren entwickelt, mit dem man Gene so kombinieren kann, dass neue Proteine entstehen. Als er damals auf die Suche nach einem Standort ging, hatte ihn die Negativstimmung in Deutschland abgeschreckt, kaum ein anderes Land sei in puncto Gentechnik so fanatisiert gewesen, meint er: "Es fehlt der Drive", war sein Eindruck, "alles geht im Schneckentempo."

Mittlerweile sei es etwas besser geworden, trotzdem ist der Firmengründer froh, dass er den Schritt nach Österreich gewagt hat. In der Region habe sich inzwischen eine Vielzahl an Biotech-Firmen angesiedelt, berichtet er, von Wien gehe "eine unheimliche Sogwirkung" aus.

Neben den Hochqualifizierten finden inzwischen aber auch immer mehr Durchschnittsbürger den Mut, ganz neu anzufangen, meist freilich notgedrungen: Sie bügeln Wäsche in Südtiroler Hotels, bedienen Gäste in Tessiner Restaurants und kochen Semmelknödel im Stubaital. Für nichts sind sie sich zu schade, alles ist besser als Hartz IV.

Bemerkenswert viele dieser deutschen Gastarbeiter sind Handwerker: Tischler und Klempner, Metzger und Bäcker - sie genießen im Ausland einen hervorragenden Ruf. Sie sind ordentlich ausgebildet und gelten als fleißig, pünktlich und erfahren.

Seit 30 Jahren arbeitet Frank Pigorsch, 45, aus Harsefeld bei Stade am Bau. Seine alte Firma hat Insolvenz angemeldet, der Maurermeister wurde arbeitslos, schrieb zahllose Bewerbungen - vergebens.

Auf einer Jobmesse kam er in Kontakt mit einem kanadischen Bauunternehmen aus der boomenden Westprovinz Alberta, dort befinden sich große Ölvorkommen. Pigorsch erhielt ein Angebot, seit März arbeitet er in Calgary. Irgendwann habe er seinen Chef zur Seite genommen: "Joe, wie sieht das aus? Kann ich bleiben?" Er konnte. Nun hat der Maurermeister die Familie nachgeholt: seine Frau

Birgit und die Söhne Aaron und Johannes. "Mit Mitte 40 ist das die letzte Chance", sagt er.

Kanada, aber auch Australien, Neuseeland und demnächst Großbritannien bedienen sich eines Punktesystems, um die Einwanderung zu steuern: Diese Länder heuern primär jene Kräfte an, die langfristig gesucht werden. Wer zum Beispiel jünger als 29 ist, bekommt in Australien in der Kategorie "Alter" die meisten Punkte. Über 45-Jährige haben es dagegen schwer. Die Hürden liegen hoch.

Beste Chancen hätte etwa der 27-jährige Bäckermeister mit ein paar Jahren Berufserfahrung, der fließend Englisch spricht, schon mal in Melbourne ein Praktikum absolviert hat und am besten noch ein paar tausend Euro mitbringt. Ein solcher Bewerber bekäme bis zu 140 Punkte, 120 muss er derzeit erreichen, um ins Land zu dürfen, in Kanada sind es 67 von 100 möglichen Punkten.

Ein solches Steuerungsinstrument für den Zuzug wollte die rot-grüne Regierung auch in Deutschland einführen, so hatte es die Kommission unter Führung der CDU-Politikerin Rita Süssmuth vorgeschlagen. Der Passus stand 2003 sogar bereits im Entwurf zum neuen Zuwanderungsgesetz. Doch angesichts damals steigender Arbeitslosenzahlen und zuvor schon populistischer Stimmungsmache ("Kinder statt Inder") knickte die Union ein, das Punktesystem musste raus aus dem Papier.

Jetzt ist der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs schmerzlich zu spüren und der Verdruss groß. Die Zahl der Einwanderer liegt so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr, auch die einst so umjubelte Green Card übte wenig Anziehungskraft aus.

Insgesamt haben sich im vergangenen Jahr lediglich 900 hochqualifizierte Kräfte eine Niederlassungserlaubnis ausstellen lassen. Kein Wunder bei derart abschreckenden Voraussetzungen: Nur wer mehr als rund 84.000 Euro im Jahr verdient oder eine exponierte Position in der Wissenschaft innehat, darf sich dauerhaft in Deutschland niederlassen. Und Selbständige müssen mindestens eine Million Euro investieren und zehn Arbeitsplätze schaffen, wenn sie hierzulande ihr Glück versuchen wollen. Eine junge Ärztin aus den USA, würde sie denn kommen wollen, hätte in Deutschland keine Chance.

"Deutschland hat sich eingeigelt", kritisiert der Osnabrücker Historiker und Migrationsexperte Klaus Bade die Abschottungsstrategie. "Das geht auf Dauer ohne schwere Einbußen an Innovationskraft nicht ab."

Gerade die Bundesrepublik mit ihrer alternden und schrumpfenden Bevölkerung ist auf qualifizierte Einwanderer angewiesen. Eigentlich müssten - nur um den Bevölkerungsstand zu halten - unter dem Strich 200.000 bis 300.000 Ausländer einwandern. Tatsächlich kamen im vorigen Jahr netto lediglich knapp 80.000 Menschen ins Land.

Und ebenso unzweifelhaft ist der Trend, dass gerade jene Länder, die ihre Zuwanderung aktiv steuern, ökonomisch weitaus besser dastehen. In Kanada, Australien oder in den USA wächst die Wirtschaft kontinuierlich und stärker als in Deutschland, dort liegt die Arbeitslosenrate durchweg niedriger. Die verbreitete Furcht, dass Zuzügler Einheimischen die Jobs wegnehmen, ist offenbar unbegründet.

Auch der Vorstoß des Zentralrats der Juden in Deutschland wird einem modernen Einwanderungsrecht kaum zum Durchbruch verhelfen: Die Spitzenorganisation der jüdischen Gemeinden hat unlängst ein Punktesystem für den Zuzug von Juden durchgesetzt. Künftig dürfen vor allem Jüngere bleiben, die über einen Hochschulabschluss und gute Deutschkenntnisse verfügen. Ein Modell für den Bund? Keinesfalls, heißt es aus dem Innenministerium, es werde keinen Paradigmenwechsel der Einwanderungspolitik geben.

So verhindert die Bundesrepublik weiterhin den Zuzug, statt ihn intelligent zu steuern. Ausländische Spitzenleute werden Deutschland weiter meiden, während umgekehrt die junge deutsche Elite hinauszieht in die Welt. Allerdings ist es längst nicht für jeden ein Triumphzug. Viele zeichnen sich ein Idealbild von ihrem Zielland und wundern sich dann, dass es im Detail ganz und gar nicht so perfekt ist.

Wem ist schon bekannt, dass Österreich einen höheren Spitzensteuersatz verlangt als Deutschland? Oder dass in Großbritannien der Arbeitgeber bei Krankheit längst nicht so viel Lohn zahlt? Wer hat denn genaue Kenntnis davon, dass Gutverdiener in der Schweiz weitaus mehr für die Rentenkasse berappen müssen oder dass ein Kita-Platz in Zürich schon mal 100 Franken pro Tag kosten kann? Und wem ist bewusst, dass Arbeitnehmer in Kanada sich ihren 14-tägigen Urlaubsanspruch erst erarbeiten müssen? Vor Ort kommt oft das böse Erwachen.

Viele Auswanderer müssen sich zudem eingestehen, dass zwar ein neues Kapitel in ihrem Leben beginnt, aber sie selbst immer noch die Alten sind, mit all ihren Schwächen und Eigenheiten. Es ist eben doch nicht so leicht, einen Job in Neuseeland zu bekommen, wenn man kaum Englisch spricht. Und es mag sich auch nicht jeder so einfach mit der lässigen Mañana-Mentalität in südlichen Gefilden arrangieren. So vieles ist anders, auch wenn es nur viele Kleinigkeiten sind.

Julia Arneth, 33, hat beispielsweise feststellen müssen, dass man sich in Großbritannien auf Zugfahrpläne nicht verlassen darf. Die Hamburgerin ist im Februar nach London übergesiedelt, sie arbeitet als Architektin in der Metropole: "In Deutschland hatte ich nie etwas Festes." Nun lernt sie die Vorzüge des doch leidlich zuverlässigen Personennahverkehrs in Deutschland richtig schätzen.

Und als sie nach ein paar Wochen in London Zahnschmerzen bekam, aber nicht sofort einen Termin beim Arzt, da wurde ihr klar, dass es doch manches gibt, was sie vermisst: "Es geht uns schon noch ziemlich gut in Deutschland." Arneth ist jung, die britischen Sonderheiten nimmt sie gelassen.

Je älter aber ein Auswanderer ist, desto schwerer fällt ihm die Anpassung an die fremde Umgebung, lautet eine Faustregel. Die andere: Je ferner das Ziel liegt, umso größer sind die Probleme, sich einzugewöhnen. Bis irgendwann die Emigranten dieses tiefe Gefühl von Heimweh in sich hochsteigen spüren.

Immer wieder erreichen Beratungsstellen Hilferufe von Deutschen, die im Ausland nicht zurechtkommen und so schnell wie möglich zurückwollen. Bei der Evangelischen Auslandsberatung in Hamburg meldete sich neulich ein Familienvater, der mit der Firmengründung gescheitert war; er musste sich als Pflücker auf einer Plantage durchschlagen, um die Rückflugtickets bezahlen zu können.

Andere spielen nicht aus Not, sondern aus Überzeugung mit dem Gedanken an Rückkehr. Gerade Wissenschaftler bleiben oft nur eine Zeitlang im selbstgewählten Exil und setzen ihre Karriere nach einigen Jahren wieder in Deutschland fort - dann aber um viele Erkenntnisse und Erfahrungen reicher. Der "Brain Drain" kann also durchaus wünschenswert sein, sofern irgendwann das Wissen, gleichsam verzinst, zurückfließt ins Land.

Allerdings gestaltet sich der Weg zurück oft schwieriger als erwartet. Halvard Bönig, 39, ein auf Hämatologie spezialisierter Kinderarzt, würde am liebsten sofort wieder nach Deutschland ziehen. Er forscht an einer Universität in Seattle an effektiveren Methoden zur Knochenmarkstransplantation. Doch eine Rückkehr wäre für ihn ein Rückschritt: In Deutschland gibt es nur wenige Universitätskliniken mit Lehrstühlen für experimentelle Forschung. Und die raren Stellen werden dort in der Regel intern vergeben.

Seit 2002 arbeitet der Wissenschaftler in Seattle, dort hat er ideale Bedingungen vorgefunden. "Wer hier eine gute Idee hat, schreibt einen Antrag und hat dann gute Chancen auf die Finanzierung", sagt er. Aber im Grunde seines Herzens möchte er nach Hause. Die Amerikaner, die er kennengelernt hat, sind ihm zu materialistisch eingestellt, Bönig ist sogar ein wenig

unwohl bei dem Gedanken, dass er den Forschungsstandort USA mit seiner Arbeitskraft noch stärkt. "Was ich hier tue, würde ich lieber in Deutschland machen." Aber in der Heimat reißt sich keiner um ihn.

Offensichtlich hätten die Deutschen noch nicht begriffen, dass sich die ganze Welt in einem Wettbewerb um die besten Köpfe befinde, meint der Essener Arbeitsökonom Thomas Bauer. Und da erscheine Deutschland im Vergleich keinesfalls besonders attraktiv: Die Steuerlast sei zu hoch, der Verdienst zu gering, der Neid gegenüber Besserverdienern besonders ausgeprägt. "Das schreckt speziell Hochqualifizierte stark ab", dem Standort entstehe dadurch ein "massiver Schaden".

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn gute Leute ins Ausland abwandern und dort reüssieren, spricht sich dies zu Hause schnell herum. Dann eifern ihnen die Daheimgebliebenen nach. Die Erfolge motivieren sie, sich ebenfalls ein Herz zu fassen, die Koffer zu packen und das Land auf der Erde zu suchen, wo der Traum zur Wirklichkeit werden kann. Am Ende wird daraus eine Welle.

Mit offenen Armen sei er in Oslo empfangen worden, berichtet Klaus Dittmers, 34, ein promovierter Geologe aus Bremerhaven, der seit April bei einem Zulieferer der Ölindustrie in der norwegischen Hauptstadt arbeitet. "Die Norweger sagen sich: 'Wir brauchen die Leute.'"

Bis April lebte Dittmers von Hartz IV, dann hielt er die Untätigkeit nicht mehr aus. In Norwegen boomt die Explorationsbranche, Geologen sind gesucht. Er fasste den Entschluss, der gerade sein Leben verändert.

Inzwischen kann er sich gut vorstellen, auf Dauer zu bleiben: Dittmers lernt die Sprache, den Kurs bezahlt ihm der Staat. Der Geologe überlegt sich sogar schon, irgendwo zwischen Fjorden und Bergen ein Haus zu kaufen: "Das Land gefällt mir von Tag zu Tag besser."

Wieder einer weniger.

(c) Spiegel Online