Montag

Henkel: Nicht nur in Ungarn, auch in Deutschland wird gelogen

Nicht nur in Ungarn, auch in Deutschland lügen Politiker, um sich Wahlerfolge zu sichern. Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, Mitglied des Konvent für Deutschland, wirft insbesondere Sozialpolitikern vor zu glauben, „falsche Versprechen machen zu müssen“.

Henkel in der neuen WirtschaftsWoche: „Das aktuellste Beispiel ist der Mindestlohn. Unter vier Augen halten ihn viele Unions- und SPD-Politiker für kontraproduktiven Quatsch und einen Eingriff in die Tarifautonomie. Aber das Argument vom ,Kampf gegen Hungerlöhne’ kommt gut beim Publikum an. Quasi automatisch argumentieren sich die Politiker in eine Lügenwelt hinein.“

Ein weiteres Beispiel sei die Erhöhung der Mehrwertsteuer. „Vor der Bundestagswahl hatte die Union die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte anheben wollen, die SPD gar nicht; nun schlägt die große Koalition gleich drei Punkte drauf. Diese verlogene Mathematik versteht keiner. Da dürfen sich die Politiker nicht wundern, wenn die Wahlbeteiligung schrumpft.“

Immerhin habe das Volk bei der Mehrwertsteuer bemerkt, dass es belogen worden sei. Henkel: „Um den Politikern die Angst vor der Wahrheit zu nehmen, sollten in Deutschland die Wahltermine gebündelt werden. Denn wenn im Schnitt alle 90 Tage gewählt wird, sind die Politiker dauernd unter Druck zu lügen, um sich nicht mit unbequemen Wahrheiten ihrer Wahlchancen zu berauben.“

[23.09.2006]

Aus der WirtschaftsWoche 39/2006

Wie wir leben werden...von Matthias Horx

WIE WIR LEBEN WERDEN - Die Zukunft beginnt jetzt.

Eine Reise durch das Leben im 21. Jahrhundert.

Dieses Buch erzählt die Geschichte von zwei Kindern, die im Jahr 2000 geboren wurden. In zwei verschiedenen Kontinenten und zwei Realitäten, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. In ihrer wechselhaften Biographie werden die großen soziokulturellen Wandlungen erzählt, die uns jenseits der alten Industriegesellschaft bevorstehen. In einer Mischung aus Science-Fiction und Sachbuch wird die neue globale Wissens-Gesellschaft portraitiert, in der wir unsere Zukunft verbringen werden.

"Wie wir Leben werden", ist gleichzeitig der Versuch, die moderne Trend- und Zukunftsforschung auf den neuesten methodischen Stand zu bringen. Ich nutze die Erkenntnisse der neuen interdisziplinären Wissenschaften wie Neurobiologie, Ethnopsychologie, Kogitionswissenschaft, Systemtheorie und Soziobiologie für einen ganzheitlichen Ansatz. Meine Fragen an die Zukunft lauten vor diesem Hintergrund:

Geburt: Wie werden wir im "Genetic Age" Kinder bekommen?

Lernen: Wie entwickelt sich die humane Intelligenz in der Wissensgesellschaft?

Liebe: Wie wandeln sich Sex, Familie und Rollenbilder in einer Welt der starken Frauen?

Arbeit: Wie verändert sich Arbeit jenseits der alten Lohnarbeits-Welt?

Wohlstand: Wie re-konfigurieren sich Armut und Reichtum im Post-Industrialismus?

Politik: Was heißt soziale Gerechtigkeit in der globalen Wissensgesellschaft?

Glaube: Wohin driften Glaubens-Bilder und spirituelle Bedürfnisse in der globalen Kultur?

Krieg und Katastrophe: Wie wahrscheinlich ist ein Zivilisations-Zusammenbruch?

Alterung: Die neuen Lebensphasen der Langlebigkeits-Gesellschaft.

Tod – Wie werden wir sterben?

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Kassandra, Dr. Popper, Helga, Kosmo und ich.
Ein Diskurs über Zukunftspessismus und Morgen-Hoffnung.

Geburt
Wird Elternschaft auch in Zukunft unser Leben bestimmen?
Welchen "Wert" bilden Kinder in der Wissensgesellschaft?
Werden wir klonen?

Lernen
Können wir lebenslang lernen?
Welche Qualifikationen brauchen wir für die Zukunft?
Wie klug können wir werden?

Liebe
Werden wir alle Singles?
Wird Liebe immer romantischer - oder immer rationeller?
Werden "Lebensabschnittspartner" die Zukunft bestimmen?

Arbeit
Wird uns die Arbeit ausgehen?
Wie flexibel und mobil kann Arbeit werden?
Entsteht ein neues Proletariat?

Wohlstand
Ist "immer mehr Konsum" unser Schicksal?
Geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander?
Wird die Welt wohlhabender oder ärmer?

Krieg und Katastrophe
Werden wir den Dritten Weltkrieg erleben?
Wird der Terrorismus das 21. Jahrhundert definieren?
Werden Katastrophen zum Ende der Menschheit führen?

Politik
Wird die Demokratie in eine existenzielle Krise geraten?
Ist der Staat in der globalisierten Marktwirtschaft überflüssig?
Entsolidarisiert sich die Gesellschaft?

Glaube
Wird Religion allmählich verblassen?
Auf welche Erlösungen werden wir hoffen?
Wie entwickelt sich das Christentum?

Das ganze Leben
Wie verändert die Alterung unsere Kultur?
Welche Lebensphasen prägen unsere Biographien?
In welchen Landschaften werden wir leben?

Tod
Werden wir den Tod besiegen?
Wollen wir den Tod besiegen?

Epilog: Das 22. Jahrhundert

Nachwort

Grundeinkommen - Links:

http://de.wikipedia.org/wiki/Grundeinkommen

http://www.grundeinkommen.info/

http://www.initiative-grundeinkommen.ch/content/blog

http://www.grundeinkommen2005.org/

Grundeinkommen - "Wir würden gewaltig reicher werden"

DM-CHEF WERNER ZUM GRUNDEINKOMMEN

"Wir würden gewaltig reicher werden"

Mit großformatigen Anzeigen wirbt der Gründer der Drogeriemarktkette dm, Götz Werner, für ein garantiertes Grundeinkommen. Das Geld dafür soll eine Steuerreform einbringen, gegen die die Pläne von Paul Kirchhof zaghaft erscheinen. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE erklären er und der Steuerexperte Benediktus Hardorp, wie das Ganze funktionieren soll.

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SPIEGEL ONLINE: Herr Werner, Herr Hardorp, Sie fordern ein Bürgergeld, das jedem zustehen soll, egal ob er arbeitet oder nicht, ob er arm ist oder reich. Wie soll das funktionieren?

Dm-Gründer Werner: "Den Menschen Faulheit zu unterstellen ist unfair, und es wird auch der Wirklichkeit nicht gerecht"

Götz Werner: Nach unserem Modell hätte jeder einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betrag in Höhe von durchschnittlich 1200 Euro pro Monat. Der Unterschied zur heute geübten Praxis würde darin bestehen, dass der Betreffende nicht erst Bedingungen erfüllen muss, um Geld vom Staat zu erhalten.

SPIEGEL ONLINE: Sie wollen also auch denjenigen Geld geben, die es eigentlich gar nicht nötig hätten?

Werner: Jeder könnte darüber verfügen, ohne als Bittsteller dazustehen. Auf der Basis einer solchermaßen gesicherten Existenz hätte er den Freiraum, den er braucht, um seine Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen.

SPIEGEL ONLINE: Heute haben diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht allein bestreiten können, auch ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Unterstützung. Sie weiten den Kreis der Empfänger nur drastisch aus.

Werner: Heute muss jeder nachweisen, dass er nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen. Ein Beleg für sein Unvermögen sozusagen. Das macht die Menschen zu Almosenempfängern, und das belastet ungeheuer. Die einen kapseln sich ab, werden phlegmatisch, die anderen suchen sich ihre Bestätigung möglicherweise durch Imponiergehabe oder im Extremfall sogar in Gewalt, wie das in den vergangenen Wochen in Frankreich zu beobachten war.

Benediktus Hardorp: Aber nicht nur für die Bedürftigen würde sich viel ändern: Niemand würde mehr arbeiten, um seine Existenz zu sichern, sondern weil er in der Arbeit seine Erfüllung findet. Er hätte die Freiheit, sich den Platz in der Gemeinschaft zu suchen, wo er den sinnvollsten Beitrag leisten kann. Wenn zum Beispiel Bergarbeiter heute auf die Straße gehen, weil unter Tage Arbeitsplätze abgebaut werden, die laut, anstrengend und gefährlich sind, dann nicht, weil sie dort so gerne arbeiten, sondern weil sie um ihr Einkommen fürchten.

SPIEGEL ONLINE: Wer aber macht so unattraktive Arbeit wie diese Bergarbeiter, wenn sie nicht mehr darauf angewiesen sind?

Werner: Dafür gibt es prinzipiell vier Möglichkeiten. Man macht es selbst, man zahlt entsprechend gute Löhne. Man automatisiert. Oder es geschieht, wie heute schon bei der Spargel- und Erdbeerernte.

SPIEGEL ONLINE: Derweil ruhen sich die Deutschen in der sozialen Hängematte aus.

Werner: Den Menschen Faulheit zu unterstellen ist unfair, und es wird auch der Wirklichkeit nicht gerecht. Die Allermeisten wollen arbeiten, das zeigt mir meine Erfahrung als Unternehmer - das gilt für die Filialleiter ebenso wie für die Lagerarbeiter oder die Menschen an der Kasse. Denn Arbeit vermittelt den Menschen das Gefühl und Bewusstsein, gebraucht zu werden, anerkannt zu sein im sozialen Netzwerk.

SPIEGEL ONLINE: Entspricht diese Sichtweise nicht eher der Wunschvorstellung von einer schönen neuen Welt?

Werner: Sie wird noch viel schöner, wenn man sich die gesellschaftlichen Veränderungen vor Augen führt, die das Grundeinkommen zur Folge hätte. Studenten könnten sich ihr Studienfach nach ihren Interessen und Talenten aussuchen und nicht im Hinblick auf die späteren Karrierechancen. Und stellen Sie sich den gemeinnützigen Bereich vor: Mit einem Grundeinkommen könnten es sich die Menschen endlich leisten, dort zu arbeiten und anderen zu helfen.

Hardorp: Hinzu kommt, dass Arbeitgeber nicht mehr mit ihren Angestellten umspringen könnten, wie es ihnen beliebt. Die wären nämlich frei in ihrer Entscheidung zu kündigen, weil sie damit nicht ihre Existenz aufs Spiel setzen würden. Die zusätzliche Freiheit würde sich speziell auch in den unteren Lohngruppen bemerkbar machen, denn diese befinden sich unter den bestehenden Umständen in einer doppelten Zwickmühle. Sie werden demotiviert durch schwierige Arbeitsbedingungen und stehen gleichzeitig häufig noch schlechter da, wenn sie arbeiten, als wenn sie sich auf die Sozialsysteme verlassen.

SPIEGEL ONLINE: Sie wollen aber nicht nur viel Geld für ein Grundeinkommen ausgeben, sondern auch auf Steuereinnahmen verzichten.

Hardorp: Richtig. Null Steuern für alle Einkommen.

SPIEGEL ONLINE: Alle?

Werner: Lohnsteuer, Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer, Vermögensteuer - alles fällt weg.

SPIEGEL ONLINE: Und wer soll das bezahlen?

Werner: Ein Großteil der Summe bezahlt die Gesellschaft ohnehin schon für Sozialleistungen und Subventionen - rund 720 Milliarden Euro, die dann wegfallen würden. Nehmen Sie allein den Grundfreibetrag, den jeder in seiner Einkommensteuererklärung geltend machen kann. Aber Sie haben Recht, am Ende bleibt eine Differenz, die die Bürger bezahlen müssen. Wie groß diese ist, hängt natürlich davon ab, wie hoch das Grundeinkommen ist, über das sich die Gesellschaft verständigt. Wir denken, dass es über das ganze Leben verteilt im Durchschnitt 1200 Euro pro Monat betragen könnte, in der Jugend und im Alter weniger und zwischen 30 und 45 mehr.

SPIEGEL ONLINE: Überschlägig gerechnet würde ein Grundeinkommen von durchschnittlich 1200 Euro für jeden Bundesbürger mehr als 1400 Milliarden Euro kosten. Wie wollen Sie die Deckungslücke füllen?

Werner: Wie gesagt, über die Höhe des Gundeinkommens müsste sich die Gesellschaft verständigen. Zunächst würde es wohl geringer ausfallen. Aber am Ende wird der Produktivitätsfortschritt in der Gesellschaft so gewaltig sein, dass genügend Geld zur Verfügung stehen wird. Im Übrigen sprechen wir nicht von null Steuern. Eine einzige würde noch anfallen: die Konsumsteuer.

SPIEGEL ONLINE: Ein solcher Steuersatz müsste absurd hoch sein. Was Sie den Bürgern also in die rechte Tasche stecken, ziehen Sie ihnen aus der linken wieder heraus.

Werner: Die Logik, dass man das Geld erst verdienen muss, bevor man es ausgibt, kann ich auch nicht außer Kraft setzen. Übrigens sind auch heutzutage alle Steuern, tatsächlich alle Steuern, am Ende im Preis für die Ware oder Dienstleistung enthalten. Sie werden also auch vom Endverbraucher bezahlt. Würde man alle Staatseinkünfte über eine einzige Steuer einnehmen, so würde damit auch endlich klar, wie groß der Staatsanteil wirklich ist - er ließe sich ganz einfach an der Höhe der Mehrwertsteuer ablesen.

SPIEGEL ONLINE: Aber bei einer so hohen Verbrauchsteuer bleibt kaum noch etwas übrig von dem Grundeinkommen?

Werner: Zu Anfang würde es ungefähr in dem Bereich liegen, den heute ein Hartz-IV-Empfänger insgesamt zur Verfügung hat.

SPIEGEL ONLINE: Ein nicht gerade berauschendes Ergebnis angesichts der Tatsache, dass Sie das gesamte System umstürzen.

Werner: Die Vorteile sind so groß, dass sich der Umsturz lohnt. Zum einen fällt die Steuer nicht mehr innerhalb des Wertschöpfungsprozesses an, also an der Stelle, wo die Menschen Leistung erbringen. Stattdessen bezahlt sie derjenige, der das Produkt am Ende der Wertschöpfungskette haben will. Leistung würde sich also wieder lohnen. Weil Arbeit billiger würde, könnten eine ganze Reihe neuer Jobs entstehen. Und natürlich hätten diejenigen, die bisher schwarz gearbeitet haben, plötzlich reguläre Jobs. Die Exportwirtschaft würde im Ausland noch wettbewerbsfähiger werden. Kapitalflucht ins Ausland wäre kein Thema mehr, weil sich damit keine Steuerzahlungen mehr vermeiden ließen. Das Geld bliebe im Lande und stünde für Investitionen zur Verfügung. Wir würden um ein gewaltiges Ausmaß reicher werden als heute.

Hardorp: Natürlich würde auch der Drang, Geld lieber in Investitionsruinen zu versenken, als es dem Fiskus zu überlassen, verschwinden, denn wo keine Steuerbelastung anfällt, fehlt auch das Bestreben, sie zu reduzieren. Fehlsteuerungen würden vermieden. Den Vorteil, den die Vereinfachung der ganzen Steuer- und Verteilungsbürokratie mit sich bringt, wage ich gar nicht abzuschätzen.

SPIEGEL ONLINE: Die Verbrauchsteuern bezahlen Arme gleichermaßen wie Reiche. Wo bleibt der Grundsatz, dass die Starken einen höheren Anteil an der Finanzierung des Staates übernehmen sollen?

Werner: Zum einen konsumieren sie natürlich mehr und bezahlen auf diese Weise mehr Steuern. Das Geld, das sie nicht ausgeben, kommt über Investitionen wieder der Gesellschaft zugute. Aber ich gebe zu: Eine überproportionale Belastung, wie wir sie im derzeitigen System kennen, ist das nicht. Sie würde aber auch nichts bringen, denn sie wird am Ende ja doch weiterverkalkuliert und landet in den Preisen.

SPIEGEL ONLINE: Und wie viele zusätzliche Arbeitsplätze würde Ihr Modell bringen?

Werner: Falscher Ansatz. In dieser Welt gäbe es keine Arbeitslosen mehr, denn alle die arbeiten wollen, könnten das tun - und ich bin sicher jeder würde seinen Weg finden.

Das Gespräch führte Michael Kröger

Die Wirtschaft befreit die Menschen von der Arbeit...

Götz Werner, der Chef der Drogeriemarktkette DM: Deutschland braucht ein Bürgergeld und nur noch eine Steuer

Alle Politiker sind sich einig: Das wichtigste in Deutschland ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Drogeriemarktkette DM ist ein Unternehmen, bei dem seit Jahren neue Stellen geschaffen werden. Doch im Gespräch mit Sönke Iwersen überrascht der Gründer Götz Werner mit ungewohnten Ansichten.



Herr Werner, wie wichtig ist Ihnen die Schaffung neuer Arbeitsplätze?

Überhaupt nicht wichtig. Sonst wäre ich ja ein schlechter Unternehmer. Als solcher habe ich meine Aufgaben zu erfüllen.

Wäre es nicht Ihre vornehmste Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen?

Ich muss wirklich sagen, dass ich dieses Gerede von der Schaffung neuer Arbeitsplätze langsam nicht mehr hören kann. Warum wird dem so wenig widersprochen? Die Wirtschaft hat nicht die Aufgabe, Arbeitsplätze zu schaffen. Im Gegenteil. Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, die Menschen von der Arbeit zu befreien. Und das ist uns in den letzten 50 Jahren ja auch grandios gelungen.

Sie finden Arbeitslosigkeit grandios?

Moment. Noch keine Generation in Deutschland musste jemals so wenig arbeiten und hatte gleichzeitig einen solchen Lebensstandard wie wir heute. Als ich ins Gymnasium ging, hatten zwei Kinder in der Klasse einen Fernseher und bei zwei Kindern in der Klasse hatten die Eltern ein Auto. Bei meinen Kindern heute gibt es wahrscheinlich zwei Elternhäuser, die keine zwei Autos haben. Und vielleicht zwei Elternhäuser, die keine zwei Fernseher haben.

Aber der Wohlstand kommt doch von Arbeit, nicht von Arbeitslosigkeit. Wie schaffen wir es, dass wieder mehr Arbeitsplätze entstehen?

Das ist nicht die Frage, die sich ein Unternehmer stellt. Kein Unternehmer überlegt sich morgens, wenn er in den Laden kommt: Wie kann ich heute möglichst viele Menschen beschäftigen? Allein die Vorstellung ist schon absurd. Die Frage lautet umgekehrt: Wie kann ich mit einem möglichst geringen Aufwand an Zeit und Ressourcen möglichst viel für meine Kunden erreichen? Wie kann ich den Laden besser organisieren? Und besser organisieren heißt immer, Arbeit einzusparen. Das ist ein absolutes unternehmerisches Prinzip.

Aber Herr Werner. Sie haben bei DM in den letzten Jahren doch selbst tausende von Arbeitsplätzen geschaffen.

Ja schon. Aber unser Unternehmen ist deswegen erfolgreich, weil es produktiver ist als andere. Weil es produktiver ist, wächst es. Weil es wächst, schafft es Arbeitsplätze. Aber die gehen zu Lasten der Arbeitsplätze bei den Unternehmen, die weniger produktiv sind. Volkswirtschaftlich gesehen führt Erfolg bei gesättigten Märkten immer zum Abbau von Arbeitsplätzen.

Sie halten fünf Millionen Arbeitslose also für einen Beweis der Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft?

Zumindest ist es ein Ausdruck der Produktivitätsentwicklung. Und eine Produktivitätsentwicklung ist immer ein Fortschritt. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter 1959 einen VW-Käfer bestellt hat. Da betrug die Lieferzeit 13 Monate. Können Sie sich das heute noch vorstellen?

Kaum.

Sehen Sie. Und Anfang der 70er Jahre warb die Post mit dem Motto: Fasse dich kurz. Der Grund war, dass ständig die Leitungen belegt waren und die Leute sich die Finger wund wählten. Stellen Sie sich mal vor, die Telekom oder Vodafone würden heute mit solchen Werbesprüchen kommen. Das ist gar nicht denkbar.

Sie wollen sagen, dass es uns heute besser geht als früher.

Wir leben quasi in paradiesischen Zuständen. Denn wir sind heute in der Lage, weit mehr zu produzieren, als wir sinnvoll verbrauchen können. Ein Beispiel: Wäre die Wiedervereinigung 20 Jahre früher gekommen, hätte es in Deutschland riesige Mangelerscheinungen gegeben. 1970 war die Wirtschaft noch nicht so weit, mal eben 17 Millionen Menschen mitzuversorgen. 1990 funktionierte das doch erstaunlich glatt. Niemand im Westen musste einen Mangel erleben.

Dafür sind heute im Osten 20 Prozent der Menschen arbeitslos.

Ja, schlimm genug. Aber diese ganze Diskussion um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit führt ins Nichts. Und jeder, der etwas von Wirtschaft versteht, weiß doch eines: Die Zeit der Massenarbeit ist vorbei. Ich war gerade in Island. Doch hat mir ein Fischer erzählt, dass die Isländer heute dank Fabrikschiffen mit einem Viertel der Arbeiter vier mal so viel Fisch produzieren wie vor 30 Jahren. Verstehen Sie? 75 Prozent der Leute werden einfach nicht mehr gebraucht. Solche Beispiele gibt es überall. Unsere Fähigkeit, Dinge zu produzieren, übersteigt unseren Bedarf, Dinge zu konsumieren. Das ist eine ganz einfache Tatsache, und keine Arbeitsmarktreform kann daran etwas ändern.

Trotzdem fordern Politiker, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften ständig bessere Rahmenbedingungen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen können.

Ich weiß. Aber wir müssen uns doch fragen: Was ist eigentlich die Aufgabe der Wirtschaft? Es gibt zwei Aufgaben. Die erste: Sie muss die Menschen mit Gütern und Dienstleistungen versorgen. Und nie in der Geschichte hat die Wirtschaft diese Aufgabe so gut erfüllt wie heute. Wir sehen doch den totalen Überfluss. Obwohl die meisten Fabriken längst nicht ausgelastet sind, wird alles produziert, was man sich wünschen kann.

Produziert schon. Aber die Leute haben nicht genug Geld, es zu kaufen.

Aha! Jetzt kommen wir zur zweiten Aufgabe: Die Wirtschaft muss die Güter nicht nur produzieren. Sie muss die Menschen auch mit ausreichend Geld ausstatten, um zu konsumieren.

Ausstatten? Für Geld muss man arbeiten.

Ja, ja. Und wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, nicht wahr? Dieses Denken sitzt immer noch tief in den Köpfen. Aber damit kommen wir heute nicht mehr weiter.

Also wollen Sie das Geld einfach verteilen? Das ist doch naiv.

Meinen Sie? Lassen Sie mich bitte auf folgendes Phänomen hinweisen: Warum gehen in Deutschland Baufirmen zu Grunde, obwohl es im Straßenbau dringenden Bedarf gibt und wir die Leistung erbringen könnten?

Weil der Staat kein Geld hat, die Firmen zu bezahlen.

Ja. Aber dieser Irrtum kommt zu Stande, weil alles immer durch den Geldschleier gesehen wird. Der Lebensstandard einer Gesellschaft hängt doch davon ab, wie viele Güter sie produzieren kann. Nicht davon, wie viele sie finanzieren kann.

Nicht?

Nein. Nehmen Sie die frühere DDR. Dort gab es Geld im Überfluss, aber man konnte sich nur sehr wenig kaufen. Also was ist wichtiger: Das Geld? Oder die Güter?

Was also schlagen Sie vor? Die Maschinen arbeiten, und der Staat verteilt das Geld, damit die Bürger konsumieren können?

So ähnlich. Wir brauchen das bedingungslose Bürgergeld. Eine Lebensrente für jeden Bürger. Selbstverständlich können solche Veränderungen nur schrittweise über einen längeren Zeitraum eingeführt werden.

Wie hoch soll dieses Bürgergeld denn sein?

Hoch genug, um die Grundbedürfnisse zu decken. 1300 bis 1500 Euro.

Schöne Idee. Und wie wird das finanziert? Sagen Sie jetzt bitte nicht, wir brauchen mehr Steuern.

Keine Angst. Ich bin dafür, alle Steuern abzuschaffen. Bis auf eine: die Mehrwertsteuer.

Und wie hoch soll die dann sein?

Das könnten bis zu 48 Prozent sein.

Sie machen Witze.

Nein. Zählen Sie doch mal alle Steuern und Sozialleistungen zusammen. Da haben wir doch schon eine Staatsquote von rund 48 Prozent. Wenn die nur noch über die Mehrwertsteuer zu finanzieren wäre, hätte das riesige Vorteile.

Welche denn?

Die Mehrwertsteuer ist die einzige Steuer, die den Wertschöpfungsvorgang nicht behindert, nicht bremst, nicht verzerrt. Das heißt: die ganze Produktion wird steuerfrei gehalten und es kann unbehindert investiert werden.

Also noch mehr Entlastung für die Unternehmen und noch mehr Belastung für die Verbraucher?

Nein. Einfach mehr Klarheit und mehr Fairness. Ich weiß, dass Politiker unterschiedlichster Couleur fordern: Wir müssen die Reichen besteuern, die Unternehmen müssen wir besteuern und damit den kleinen Mann entlasten. Das ist eigentlich eine Lüge. Warum? Weil Unternehmer und Unternehmen faktisch keine Steuern bezahlen.

Da werden Ihnen einige Unternehmerkollegen widersprechen.

Jammern gehört zum Handwerk. Aber jeder Unternehmer weiß, was man mit Steuern macht: Man muss sie einkalkulieren. Alle Steuern, die die Unternehmen zahlen, fließen in die Preise für die Produkte ein. Letzten Endes zahlt immer der Verbraucher.

Was wäre also der Vorteil, alle Steuern in der Mehrwertsteuer zusammenzufassen?

Na, der ganze gewaltige Verwaltungsapparat des Staates würde zusammenschnurren. Denken Sie mal daran, wie viele Beamte ihre Zeit damit verschwenden, die Steuern zu erheben, auszurechnen und zu überprüfen. Das wäre alles überflüssig.

Welche anderen Vorteile hätte Ihr Plan?

Dass die Importe endlich mal richtig besteuert werden. Die billigen Textilien aus China oder Rumänien kommen doch nur so billig hier an, weil sie nur mit einer Mehrwertsteuer von 16 Prozent belastet sind. In jedem Produkt stecken Infrastrukturkosten. Aber die Infrastruktur in Deutschland ist natürlich teurer als die in China. Anders herum würden die deutschen Exporte extrem attraktiv, weil sie von Steuern völlig unbelastet wären. Außerdem würden die Arbeitskosten extrem sinken, weil ja das Bürgergeld auf die Einkommen angerechnet würde.

Wie soll das funktionieren?

Nehmen wir an, eine Krankenschwester verdient 2500 Euro. Nach Abzug des Bürgergeldes von 1300 Euro müsste das Krankenhaus ihr noch 1200 Euro bezahlen. Sie hätte danach gleich viel, aber ihre Arbeitsleistung wäre für das Krankenhaus viel leichter zu finanzieren. Das Bürgergeld würde die arbeitsintensiven Güter und Dienstleistungen entlasten und dadurch den Arbeitsmarkt enorm beleben. Insgesamt würden die Preise dadurch gleich bleiben, denn der Staat müsste ja das zu zahlende Bürgergeld über die Mehrwertsteuer wieder refinanzieren.

Aber wer wird denn in Zukunft noch arbeiten, wenn er für 1500 Euro auch zu Hause bleiben kann?

Sie unterschätzen den immateriellen Wert der Arbeit. Viele Menschen haben sehr viel Spaß an ihrer Aufgabe. Denken Sie auch an alle sozialen Berufe und die ganze Kulturarbeit. Da gibt es einen riesigen Bedarf in der Gesellschaft, der endlich finanzierbar wäre.

Und die langweiligen, die unangenehmen Jobs?

Die müssten dann eben höher entlohnt werden, wenn wir sie benötigen. Natürlich wird es dann zukünftig Berufe und auch Unternehmen geben, denen es schwer fallen wird, Menschen zu finden. Warum? Weil ja die Menschen dann nicht mehr arbeiten werden, weil sie müssen, sondern weil sie in ihrer Arbeit eine Sinnerfüllung erleben. Und auch, weil es ihnen Spaß macht.

Herr Werner, alle sprechen von der Krise. Wer Ihnen zuhört, könnte denken, es geht Deutschland ausgezeichnet.

Das stimmt ja auch. Unser Land hat noch nie so viel Wohlstand produziert wie heute. Wir haben nur Schwierigkeiten, den Wohlstand zu verteilen. Das sind wir einfach nicht gewohnt.

Also keine Krise?

Jedenfalls keine Wirtschaftskrise. Die Frage, die mich wirklich umtreibt, ist eine andere. Wir steuern auf eine Gesellschaft zu, in der die Arbeit verschwindet. Und die Frage ist nur, was die Menschen dann alle mit ihrer Zeit anfangen. Das ist eine Kulturfrage. Das Problem, das wir haben, liegt nicht auf dem Arbeitsmarkt sondern eigentlich in der Kultur. Leider ist dieses Thema im Bewusstsein der Gesellschaft kaum vorhanden. Aber genau hier müssen wir ansetzen.

(Interview in Stuttgarter Zeitung + Spiegel Online)

Gewinne und Entlassungen...

Wiedeking kritisiert Profitgier

Porsche-Chef Wendelin Wiedeking übt im SPIEGEL harte Kritik an Managerkollegen, die trotz hoher Profite im großen Stil Mitarbeiter entlassen. Eine deutliche Position bezieht Wiedeking als Großaktionär auch zu einem Zankapfel bei VW - es geht um die Zukunft des Stammwerks in Wolfsburg.

Hamburg - "Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsplätzen streichen", sagt Wiedeking im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Ein möglichst hoher Gewinn kann doch nicht das einzige Ziel eines Unternehmens sein." Es müsse "uns doch zu denken gebe, wenn Menschen vielen Wirtschaftsführern und Politikern keinerlei Glaubwürdigkeit mehr zubilligen", so Wiedeking. Die Entwicklung könne dazu führen, dass "unsere ganze Gesellschaft instabil wird".

Der Porsche-Chef verweist auf die Wahlergebnisse von Mecklenburg-Vorpommern, wo Rechtsextreme erfolgreich waren, und Berlin, wo die beiden großen Volksparteien nur gut 50 Prozent der Stimmen erhalten hatten: "Ich sehe in dieser Entwicklung ein Warnzeichen für die Gesellschaft."

Der Vorstandsvorsitzende von Porsche Chart zeigen forderte die Politik auf, den unfairen Standortwettbewerb innerhalb Europas zu unterbinden, der zur Verlagerung von Arbeitsplätzen führe. Manche Länder könnten sich Niedrigsteuern leisten, weil sie von der EU und damit vom Nettozahler Deutschland Geld überwiesen bekommen. "So finanzieren wir den Abbau unserer eigenen Arbeitsplätze mit", sagte Wiedeking. Da müsse man sich fragen: "Auf welchem Stern leben wir eigentlich?"

Wiedeking fordert Vollbeschäftigung für Werk Wolfsburg

Der Porsche-Chef, der zugleich Mitglied im Aufsichtsrat bei Volkswagen Chart zeigen ist, nimmt erstmals auch zu den Sanierungsplänen des Autokonzerns Stellung.

VW-Markenchef Wolfgang Bernhard hatte damit gedroht, dass der nächste Golf nicht mehr in Wolfsburg gebaut werden könnte, wenn die Arbeitskosten nicht sinken. Wiedeking: "Für mich steht fest, dass es eine Vollbeschäftigung in Wolfsburg geben muss. Das Stammwerk, mit dem das Unternehmen einmal gegründet wurde, muss ausgelastet sein."

Die Auto 5000 GmbH, die den Touran baut, zeige, dass man hierzulande profitabel produzieren könne. Der VW-Konzern solle sich künftig an Toyota messen. "Das ist der Maßstab", so Wiedeking, "wer sich nicht daran orientiert, hat schon verloren."

manager-magazin.de

Donnerstag

Reichensteuer trifft die Falschen (aus FTD)

Reichensteuer trifft die Falschen

von Jens Tartler (Berlin)

Die für das Jahr 2007 beschlossene Reichensteuer wird genau jene Einkünfte treffen, die nach dem Willen der Bundesregierung nicht höher belastet werden sollen. Zugleich werden jene Einkommen verschont, die unter die Reichensteuer fallen sollen.

Das ergibt sich aus einer Studie der Ökonomen Jochen Hundsdoerfer und Frank Hechtner von der FU Berlin. Außerdem wird es Steuerzahler geben, die durch die Reichensteuer sogar geringer belastet werden als nach geltendem Recht.

Die von der SPD durchgesetzte Reichensteuer soll Anfang 2007 in Kraft treten. Für zu versteuernde Jahreseinkommen ab 250.000 Euro (für Verheiratete das Doppelte) soll dann ein Spitzensteuersatz von 45 statt 42 Prozent gelten. Davon ausgenommen sind nur Unternehmer, Freiberufler und Landwirte. Arbeitnehmereinkommen, Einkünfte aus Kapitalvermögen und Vermietung unterliegen dagegen künftig der Reichensteuer.

Ungewollte Effekte

Die ungewollten Effekte rechnen die beiden Ökonomen anhand von Beispielen vor: Ein Manager verdient als Angestellter 260.000 Euro im Jahr und zusätzlich 10.000 Euro als Autor eines Gutachtens. Das Zusatzeinkommen aus selbstständiger Tätigkeit soll nach dem Willen der Regierung nur mit 42 Prozent besteuert werden. Die Berechnungen zeigen aber, dass der Grenzsteuersatz bei fast 45 Prozent liegt.

Auf der anderen Seite zahlt ein Unternehmer, der mit seiner Firma 250.000 Euro im Jahr verdient und noch zusätzliche Zins- oder Mieteinnahmen hat, auf die Zusatzeinnahmen nur gut 42 Prozent Grenzsteuersatz - statt 45 Prozent wie eigentlich geplant.

Gestaltungsmöglichkeiten für Unternehmer

Die Reichensteuer eröffnet auch neue Gestaltungsmöglichkeiten: Unternehmer, die zum Beispiel Verluste aus ausländischen Betriebsstätten haben, können diese durch den ab 2007 geltenden Entlastungsbetrag für Unternehmer so nutzen, dass sie unter dem Strich trotz Reichensteuer weniger zahlen als nach geltendem Recht.

Außerdem lässt sich die Zusatzbelastung umgehen: Unternehmer können Zinspapiere in das Betriebsvermögen verschieben.

Kein stimmiges Modell

Ein weiterer Effekt der Reichensteuer: Sie vergrößert den Steuervorteil von Personenunternehmen gegenüber Kapitalgesellschaften. Normalerweise sinkt dieser Vorteil mit steigendem Gewinn. Durch die Reichensteuer wird die Differenz aber ab einem Vorsteuerertrag von 800.000 Euro im Jahr wieder zulegen - von 6,7 Prozentpunkten beim Durchschnittssteuersatz auf 7,25 Prozent.

Die meisten ungewollten Effekte liegen an der Konstruktion mit einem Entlastungsbetrag für unternehmerische Einkünfte. Damit versucht das Finanzministerium, eine gerechte Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit für einzelne Einkunftsarten (so genannte Schedulenbesteuerung) und gleichzeitig für das Gesamteinkommen zu erzielen. "Das aber kann niemals funktionieren", sagt Ökonom Hechtner, "das lässt sich anhand von mathematischen Modellen leicht nachweisen." Ein stimmiges Modell würde aber dem Fiskus weniger Einnahmen bringen.

Dienstag

NPD - Triumph im toten Winkel der Republik

NPD-HOCHBURGEN

Triumph im toten Winkel der Republik

Aus Postlow und Wilhelmsburg berichten Philipp Wittrock und Jens Todt

Menschenleere Dörfer ohne Perspektive, die Jugend flieht, die Verbitterten bleiben: Vor allem in Vorpommern fand die NPD den Nährboden für ihren Wahlsieg. In ihrer Hochburg Postlow schließt nicht einmal der Bürgermeister aus, aus Protest mal rechtsextrem zu wählen. Ein Besuch im NPD-Land.

Postlow/Wilhelmsburg - Die Wahlhelfer im Gemeindeamt von Postlow sind einiges gewohnt. Schon bei der Bundestagswahl vor einem Jahr war der Stapel mit NPD-Stimmzetteln bemerkenswert hoch: 15,2 Prozent. Doch an diesem Sonntag staunten selbst die Postlower Wahlhelfer. Geradezu mickrig muteten die Häufchen der demokratischen Parteien an - im Vergleich zum Haufen ganz rechts außen auf dem Tisch.

Postlow in Vorpommern: 400 Einwohner, drei Ortsteile, 38 Prozent für die NPD

Nur 45 Prozent der Bürger gingen am Sonntag in der Gemeinde in Ostvorpommern überhaupt wählen. Und dann das: 55 der 144 Wähler gaben ihre Zweitstimme der NPD. An den Landeswahlleiter wurde die Zahl übermittelt, die das Dorf schlagartig bekannt machte: 38,2 Prozent der Postlower wollen die NPD im Landtag. Rekord für die Partei, die mit landesweit 7,3 Prozent ins Parlament im Schweriner Schloss eingezogen ist.

In Postlow brüllen die Plakate von fast jedem Laternenmast in fast jedem Seitensträßchen: "Wehrt Euch", "Schnauze voll", den "Bonzen auf die Finger hauen"! Von CDU und SPD: keine Spur. Scheinbar kampflos haben die Demokraten den Rechten das Feld überlassen. "Unglaublich", sagt ein 19-Jähriger, der mit ein paar Jungs im viel zu hohen Gras auf dem Bolzplatz von Tramstow kickt, "was die hier für eine Werbung gemacht haben. Die sind sogar mit einem Flugzeug mit Transparent hinten dran hierdrüber geflogen."

Die 400-Einwohner-Gemeinde Postlow, das sind der Weiler gleichen Namens, dazu Tramstow und Görke. Verschlafene Dörfer, kaum ein Mensch ist auf der Straße. Arbeitslosigkeit weit über 20 Prozent, keine Schule, keine Kneipe, kein Jugendclub. Im Übrigen auch keine Ausländer. "Laden geschlossen", vermerkt ein vergilbter Zettel am einstigen "Konsum"-Markt schon seit kurz nach der Wende. Der Verkaufswagen kommt auch nicht mehr, einmal die Woche bringt ein Bäcker frische Ware. Wer etwas braucht, fährt nach Anklam, zehn Minuten mit dem Auto, der Bus fährt stündlich, bis 19 Uhr.

Wo sind die Rechten? Skinheads, herumlungernde Jugendliche, Hakenkreuz-Schmierereien - sichtbare Zeichen der Rechten sucht man in Postlow vergebens. "Eine rechte Szene gibt es hier nicht", sagt der parteilose Bürgermeister und Geflügelzüchter Norbert Mielke, 53. Leicht genervt ist er, steht am Tor zu seinem Hof und sagt "nur eines zu dem Ergebnis: Frust und Demokratie". Dann fügt er doch noch hinzu, er sei betroffen über das Ergebnis der NPD - sicher. Aber in einer Demokratie müsse man den Erfolg einer solchen Partei akzeptieren. Die Menschen seien enttäuscht, sagt er, und deswegen empfänglich für die platten Parolen.

"Ich tue gar nichts dagegen", sagt Bürgermeister Mielke

Will er aufklären, Flagge zeigen? "Ich tue gar nichts dagegen", sagt Mielke entschlossen. Die Leute würden schnell selbst merken, dass auch die NPD nichts ändern könne.

Dann redet er sich plötzlich in Rage, schimpft im braunen Vokabular über die "etablierten Parteien", wettert über "Scheinwahlen" und eine "Diktatur", die es hierzulande längst gebe. Und "ja, natürlich": Auch er kann sich vorstellen, einmal die NPD zu wählen.

Jene Bürger zu finden, die das schon getan, ist trotzdem nicht einfach. "Oh, 38 Prozent?" Ein Rentner am Fenster seines Geburtshauses in Postlow staunt und hat keine Erklärung: "So kann man sich in seinen Nachbarn täuschen", sagt er. Ein paar Meter weiter über die Straße mäht Detlef Kieske, 51, den Rasen vor seinem Haus. Auch er: scheinbar ratlos. Nie habe er von irgendjemandem die Ankündigung gehört, NPD wählen zu wollen. Und erst am Wahltag sei der Briefkasten mit rechtsextremem Material übergequollen. Auch ein NPD-Blättchen in unauffälliger, klassischer Zeitungsoptik sei dabei gewesen. "Das war alles ganz solide und vernünftig aufgeschrieben", sagt da plötzlich Kieske, der nach eigenem Bekunden immer links wählt.

Der 19-Jährige vom Bolzplatz in Tramstow ist sicher: "Das waren ganz normale Erwachsene, die die gewählt haben." Klar gebe es in der Gemeinde auch ein paar Typen im klassischen Neonazi-Outfit, Anhänger der "Freien Kameradschaften", die in der Region stark sind. Fünf bis sechs vielleicht. "Aber früher war das alles viel schlimmer, mit prügelnden Skinheads auf Dorffesten und so. Das gibt's heute gar nicht mehr." Er wundert sich: "Und plötzlich ist die NPD hier so stark."

Postlow ist hier überall

Alle blicken an diesem Tag auf Postlow, aber in Wahrheit ist Postlow nur das krasseste Beispiel. Aus ganz Vorpommern werden hohe Ergebnisse für die NPD gemeldet, vor allem aus dem Osten, dort, wo die Grenze zu Polen nahe ist.

Und die Szenen ähneln sich auch in jenen Dörfern, die heute nicht so im Fokus stehen. 30 Kilometer südlich von Postlow liegt Wilhelmsburg-Eichhof. Die "Straße der Freundschaft" hat nach der Wende ein adrettes Kopfsteinpflaster bekommen, und trotzdem, der Ortsteil hatte schon bessere Tage. Auch hier ist niemand ist auf der Straße, der einstige "Konsum" mit nacktem Stein zugemauert. Die Grundschule steht leer. Im neuen hinteren Haus treffen sich immerhin einmal in der Woche Frauen zur Gymnastik. Einkaufen kann man provisorisch in einer Garage für ein paar Stunden am Tag; das machen vor allem Rentner. Wer jung ist, der ist am liebsten nicht mehr hier. Junge Gebildete sind der Arbeit nachgezogen - meist in den Westen. Hier im Landkreis Uecker-Randow wird immer alles weniger. Weniger Menschen, weniger Geschäfte, vor allem weniger Arbeit. Regelmäßig steht der Kreis an der Spitze der Arbeitslosenstatistik: Im August hatten 26,6 Prozent der Menschen keinen Job.

Auch der Wahlkreis Uecker-Randow I hat es am Sonntag auf Platz eins einer der Wahlstatistiken geschafft: 15 Prozent der Wähler haben hier für die NPD gestimmt. Das war der Rekord aller Wahlkreise. In Wilhelmsburg kam die NPD auf 27,9 Prozent. Zehnmal so viel wie vor vier Jahren.

Rentner Roland Tietze hat kein Verständnis für die NPD-Wähler. Aber er versucht zu erklären, warum man hier NPD wählt. "Hier gibt es doch nichts mehr. Jeder, der gehen kann, geht." Er steht an seinem Gartenzaun und beklagt, dass alle Schulkinder jetzt mit dem Bus ins Nachbardorf Ferdinandshof müssen. "Unsere Schule wurde ja dichtgemacht." Nicht mal einen Arzt gebe es noch. "Hier will ja keiner seine Praxis aufmachen." Von welcher Arbeit kann man hier leben? Der größte Betrieb, eine Rindermast im Ortsteil Friedrichshagen, beschäftigt rund 130 Leute - zu DDR-Zeiten waren es 300. Die paar Handwerker im Dorf schaffen keine Arbeitsplätze, "das sind doch alles Ein-Mann-Klitschen". Tietze glaubt: "Die Leute haben die NPD einfach aus allgemeinem Protest gewählt." Dabei sei die Partei "hier nicht präsent".


So viele Ursachen: die Abwanderung, die Armut, die DDR


Auch in Wilhelmsburg ist es so: Es gibt keine marodierenden Jugendbanden, keine organisierte rechte Szene - in Wilhelmsburg gibt es überhaupt nicht mehr viel. Die NPD-Wähler kommen aus der Mitte der Dorfgemeinschaft. Es sind Enttäuschte, Arbeitslose, Alte, Wendeverlierer. Eine Jugendliche sagt: "Dass so viele die gewählt haben, ist natürlich überhaupt nicht gut." Aus Langeweile geht die junge Frau auf den Straßen des Dorfes spazieren, ihren Namen will sie nicht nennen, "aber Glatzen haben wir hier eigentlich nicht".

Udo Wollenberg, der evangelische Pfarrer, misst der DDR ihren Anteil daran zu, dass Mecklenburg-Vorpommern so empfänglich für Rechtsextreme geworden ist. "Wer einmal in einer Diktatur indoktriniert wurde, ist viel gefährdeter als andere." Was tun? Eine Lösung hat er nicht, "es gibt bei Jugendprojekten ja auch immer finanzielle Zwänge". Gottesdienst findet in Wilhelmsburg nur alle zwei Wochen statt. Wollenberg und seine Frau betreuen ab Oktober mehrere Gemeinden gleichzeitig.

Bei der CDU sitzt am Tag nach dem NPD-Triumph Ulrich Poch, 67, Kreisgeschäftsführer, kratzt sich am Kopf und lächelt. "Wissen Sie, jeder gut Ausgebildete verlässt uns. Wer von den jungen Leuten bleibt, gehört oft zu den problematischen Kandidaten." Gegen die NPD habe die CDU im Wahlkampf kaum bestehen können, finanziell, "die hatten 400.000 Euro". Auch in Wilhelmsburg war es so: Die NPD war es, die mit ihren Plakaten am agressivsten, am populistischsten Reklame gemacht hat.


Ulrich Poch hat einen Malerbetrieb, den jetzt sein Sohn führt. "Früher haben wir 30 Leute beschäftigt, heute sind es drei", erzählt er. "Das sagt alles."


(aus Spiegel Online)

Montag

Gleicher Lohn fuer gleiche Arbeit? (aus Spiegel.de)

Von Gabor Steingart

Asien trumpft auf, China und Indien wachsen zu neuen "Masters of the Universe" heran. Der Westen droht zum Verlierer der Globalisierung zu werden. Die Arbeitskraft der Europäer wird entwertet - millionenfach.

Der Kapitalist geht dahin, wo die Verzinsung seines Kapitals am höchsten ausfällt. Er baut eine Fabrik unter Palmen oder treibt einen Stollen ins ewige Eis; Hauptsache am Ende des Jahres ist mehr Geld in der Kasse als zu seinem Beginn. Das wichtigste Ziel des Kapitals ist es nunmal, sich zu vermehren. Wenn es das Gegenteil täte, also schmelzen würde, wäre niemandem geholfen, auch nicht den Arbeitnehmern. Meist schmelzen dann die Arbeitsplätze zügig hinterher. In der Zeitung taucht erst das Wort Missmanagement auf, dazu gesellen sich in dichter Abfolge die Vokabeln Krise, Sanierungsplan, Arbeitsplatzabbau.

Autofabrik im chinesischen Ningbo: Das Kapital ist nahezu überall willkommen, Arbeiter sind es nicht
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REUTERS

Autofabrik im chinesischen Ningbo: Das Kapital ist nahezu überall willkommen, Arbeiter sind es nicht

Am Ende entscheidet sich die Überlebensfähigkeit der Arbeitsplätze ohnehin an einer Frage, die in ihrer Schlichtheit schwer zu überbieten ist: Gelingt es, aus Kapital mehr Kapital zu machen? Kein Kapitalist wird zusehen wollen, wie sein Einsatz von Tag zu Tag schwindet. Tut er es wider Erwarten doch, hört er bald schon auf, Kapitalist zu sein.

Die Arbeiter sind besser beleumundet, obwohl sie genauso herumvagabundieren. Lässt man sie ungestört ziehen, gehen sie dahin, wo hohe Bezahlung und gesicherter Lebensstandard locken. Die Süditaliener wandern in den Norden ihres Landes, die Ostdeutschen nach Westdeutschland, die Südamerikaner nach Nordamerika und Millionen von Menschen überqueren Ozeane und Kontinente, nur um dem gelobten Land, oder was sie dafür halten, näher zu kommen.

Die große Ungerechtigkeit besteht darin, dass das Kapital nahezu überall willkommen ist, die Arbeiter sind es nicht. Das Geld wird weltweit angelockt mit allen Tricks und Kniffen; vor den herumziehenden Arbeitern aber schließen die Staaten ihre Tore. Wenn es sein muss, übernimmt sogar das Militär die Abwehr der Störenfriede. Es gibt noch ein weiteres wichtiges Merkmal, in dem sich Arbeit und Kapital voneinander unterscheiden. Das Kapital und der Kapitalist sind eine Einheit, das eine kann ohne den anderen nicht leben. Sie sind verschweißt und verlötet. Staaten wie die DDR, die durch Verstaatlichung versuchten, das Kapital von seinen privaten Eigentümern zu trennen, haben es bitter bereut.

Der Kapitalist ist flexibel, regelrecht unruhig geworden

Die Arbeit und der Arbeiter leben nicht in der gleichen Symbiose, das ist ihr Nachteil von Anfang an. Ihr Kommen und Gehen über Landesgrenzen hinweg kann gestoppt werden. Ihr Arbeitsplatz aber lässt sich durch den Einsatz von Grenzsoldaten nicht halten. Dass es den Staaten des Westens dennoch jahrzehntelang gelungen ist, auf den Arbeitsmärkten weitgehend unter sich zu bleiben, wirkt in der Rückschau wie das eigentliche Wunder der Nachkriegsjahre.

BUCHTIPP
Dieser Text stammt aus "Weltkrieg um Wohlstand: Wie Macht und Reichtum neu verteilt werden" von Gabor Steingart. SPIEGEL ONLINE veröffentlicht in einer Serie Ausschnitte aus dem Buch.


Piper Verlag, München;
384 Seiten; 19,90 Euro.
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Die Nationen tauschten alles Mögliche miteinander, führten ein und führten aus, Bananen und Fernsehgeräte, Benzin und Stahlplatten, das Geld wurde hin- und herüberwiesen, aber der Ex- und Import von Arbeitern unterblieb. Westdeutschland holte eine Zeit lang zwar türkische Gastarbeiter ins Land, aber für sie galten schon nach kurzer Zeit die gleichen Regeln wie für die Einheimischen.

Auch zwischen Europa und Amerika wiesen die Arbeitsmärkte keine allzu großen Unterschiede auf. Die Unternehmer diesseits und jenseits des Atlantiks waren Konkurrenten, nicht Rivalen. Sie zahlten Löhne und keine Almosen. Kinder waren Kinder und keine Knechte. Die bürgerliche Gesellschaft sorgte schon per Gesetz für einen zivilisierten Umgang zwischen Arbeitnehmer und Fabrikant, so dass beide nach all den wüsten Jahrzehnten von Ausbeutung und Klassenkampf deutlich näher zueinander rückten.

Die kommunistischen Führer in Osteuropa beobachteten das westliche Tete-a-Tete der Sozialpartner mit Argwohn, aber sie nahmen an ihm nicht teil. Sie tauschten mit dem Westen Rohstoffe und Waren, aber seinen Arbeits- und Kapitalmärkten blieben sie fern. Auch die Dritte Welt lebte auf einem anderen Stern, westliches Desinteresse und das eigene Unvermögen sorgten für den Ausschluss von jenem Prozess, den wir heute Globalisierung nennen.

Verschobene Macht: Der Aufstieg Chinas und Indiens

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Das alles hat sich gründlich verändert. Der Graben zwischen dem Westen und dem Rest der Welt wurde zugeschüttet und stellt nun eher eine Brücke dar. Die Kapitalisten stürmen abenteuerlustig hinüber, sie machen von der neu gewonnenen Reisefreiheit reichlich Gebrauch. Sie besichtigen die entlegendsten Orte der Erde in der erklärten Absicht, sich dort häuslich niederzulassen. Ihre Fabriken entstehen allerorten und die Arbeitsplätze ziehen ohne zu zögern hinterher.

Die Summe aller Direktinvestitionen, also jener Gelder, die von einer Nation außerhalb der eigenen Landesgrenze investiert werden, betrug 1980 erst 500 Milliarden Dollar. Der Kapitalist alter Schule war ein eher häuslicher Typ.

Sein Nachfolger ist von anderem Kaliber. Mittlerweile sind die Direktinvestitionen auf zehn Billionen Dollar gestiegen, ein plus von fast 2000 Prozent in nur 25 Jahren. Der Kapitalist ist flexibel, vielerorts regelrecht unruhig geworden und verlangt dieselbe Reiselust nun auch von den Arbeitsplätzen. Der Unternehmer alten Typs war ein Patriarch und oft war er sogar nationaler gesinnt als seine Mitbürger. Der moderne Kapitalist ist ein Vielflieger mit Bonuskarte, er ist überall zu Hause und überall fremd. Wer ihn als Nationalisten bezeichnet, wird zu Recht auf sein Unverständnis treffen.

Arbeitskraft wird gehandelt wie früher Silber und Seide

Mit ihm ziehen nun auch die Arbeitsplätze durch die Welt. Sie verlassen den Westen und kommen in einem anderen Land wieder zum Vorschein. Sie tauchen in einem indischen Softwareunternehmen auf, begegnen uns in einer ungarischen Spielwarenfabrik oder einer chinesischen Werkshalle für Fahrzeugmotoren. Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird: Arbeitsplätze verschwinden nicht im Nichts. Sie werden durch Technik ersetzt oder durch einen Arbeiter, der andernorts zu Hause ist.

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Aufstieg Asiens - Muss der Westen sich wehren?

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Eine Unerhörtheit geschah, mit der so keiner gerechnet hatte: Ein Weltarbeitsmarkt ist entstanden, der sich täglich ausweitet und das Leben und Arbeiten von Milliarden Menschen spürbar verändert. Über ein unsichtbares Leitungssystem sind Menschen, die sich nicht kennen und zum Teil nicht einmal von der Existenz des jeweils anderen Landes wissen, miteinander verbunden.

Das eben unterscheidet die heutige Globalisierung von den frühen Handelsnationen, den Kolonialimperien und dem Industriekapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Zum ersten Mal in der Geschichte hat sich ein weitgehend einheitliches Wirtschaftsystem herausgebildet, das ausnahmslos alle Produktionsfaktoren umfasst: Kapital, Rohstoffe und die menschliche Arbeitskraft werden heute gehandelt wie früher Silber und Seide.

Vieles ist ins Rutschen geraten, von dem wir dachten, dass es zementiert sei. Macht und Reichtum werden neu verteilt, die Lebenschancen auch. Wir alle schauen auf die eine Welt - aber mit höchst unterschiedlichem Blick.

Die Neuankömmlinge im Weltarbeitsmarkt blicken optimistisch nach vorn, sie erwarten Großes von der Zukunft. Erstmals können etliche von ihnen einen Lohn nach Hause tragen, der mehr ist als ein Trinkgeld. Der weltweite Arbeitsmarkt ist für sie eine unerhörte Verheißung.

Für Millionen von Arbeitnehmern des Westens hält die neue Zeit eine andere Lektion bereit, weshalb der Optimismus der frühen Jahre bei ihnen verflogen ist. Viele werden in den kommenden Jahren aufhören, Arbeitnehmer zu sein. Selbst dort, wo die westlichen Beschäftigten sich mutmaßlich halten können, reißt es ihre Löhne in die Tiefe, nicht in einem Rutsch, aber mit jedem Jahr ein bisschen. In ihrem Leben macht sich etwas breit, das sie bisher in diesem Ausmaß nicht kannten: Unsicherheit.

Für Angreifer wie Verteidiger ist das Entstehen eines Weltarbeitsmarkts ein Vorgang von historischer Dimension, wie schon der Blick auf die ungewöhnlich großen Menschenmassen belegt, die nun in seine Richtung drängen. 90 Millionen Arbeiter aus Hongkong, Malaysia, Singapur, Japan und Taiwan schlossen sich in den 70er Jahren dem Wirtschaftssystem an, das bis dahin Westeuropäer, Kanadier und Amerikaner nahezu allein beschickt hatten. Die Tigerstaaten wurden mit großem Staunen, die Japaner mit der ihnen gebührenden Ehrfurcht begrüßt. Doch diese Neuankömmlinge im Weltarbeitsmarkt waren nur die Vorhut der Moderne.

Die Arbeitskräfte des Westens sind in die Minderheit geraten

Wenig später schon baten die Chinesen um Einlass; nach dem Ableben der Sowjetunion folgten Osteuropäer und Inder, womit nun innerhalb einer Zeit, die historisch kaum mehr ist als ein Augenaufschlag, rund 1,2 Milliarden zusätzliche Menschen im erwerbsfähigen Alter ihre Arbeitskraft anbieten. Was für ein Verschiebung der Kräfteverhältnisse: Die 350 Millionen gut ausgebildeten, aber teuren Arbeitskräfte des Westens, die eben noch große Teile der Weltproduktion unter sich ausmachten, sind fast über Nacht in die Minderheit geraten.

Überfluss: Zunahme des globalen Arbeitskräfteangebots seit 1970
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Überfluss: Zunahme des globalen Arbeitskräfteangebots seit 1970

Schon diese Angebotserweiterung wäre mehr als beachtlich, aber dabei bleibt es nicht. Innerhalb der Angreiferstaaten wachsen aufgrund der meist hohen Geburtenraten immer neue Menschen nach, die nur darauf brennen, sich dem Weltarbeitsmarkt anzudienen. Sie wollen einen Job, koste es, was es wolle. In den vergangenen zehn Jahren stieg die Belegschaft im Weltarbeitsmarkt, obwohl kein neuer Staat mehr hinzukam, nochmals um 400 Millionen Menschen. Weitere 200 Millionen Menschen, sagt die dafür zuständige Internationale Arbeitsorganisation der Uno in Genf, würden gern arbeiten, können derzeit aber keinen noch so schlecht bezahlten Job ergattern. Sie sind arbeitslos und das heisst: Sie sind Arbeiter im Wartestand.

In den Banken flimmern die Börsenkurse aus aller Welt über die Bildschirme. Innerhalb weniger Minuten, manchmal auch Sekunden, kommt es zur Angleichung von amerikanischen Notierungen und europäischen Kursen. Würde im Arbeitsamt ein Bildschirm mit den Löhnen der verschiedenen Länder installiert, wären viele überrascht, was sie da zu sehen bekämen. Im Weltarbeitsmarkt ist dieselbe Annährung der Kurse zu beobachten, nur in Zeitlupe.

Durch das zusätzliche Milliardenangebot an Arbeitswilligen ist etwas in Gang gekommen, das bald schon mit großer Wucht auch den Mittelbau der westlichen Gesellschaften verändern wird: Die Löhne und damit auch die Lebensstandards der einfachen Arbeiter bewegen sich aufeinander zu. Ausgerechnet das Kapital sorgt dafür, dass die alte linke Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit nun weltweit durchgesetzt wird.

Arbeit für drei Dollar pro Tag - und weniger

Das Wort Tarifautonomie erfährt einen neuen Sinn. Bisher verhandelten Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Westens ihre Löhne autonom vom Staat. In Zeiten der Arbeiterinflation aber setzen die Arbeitgeber die Löhne autonom von den Gewerkschaften fest, denn sie finden nun überall Millionen von Beschäftigten, die bereit sind, den Nachbarn zu unterbieten. Die Löhne Osteuropas und Südostasiens steigen, die des Westens verlieren an Höhe, die in China und Indien bewegen sich für die Masse der Beschäftigten auf niedrigstem Niveau. Von den knapp drei Milliarden Menschen, die derzeit auf dem Weltarbeitsmarkt aktiv sind, verdient ungefähr die Hälfte weniger als drei Dollar pro Tag, was zweierlei bedeutet: Diese Menschen sind bettelarm, erstens, und sie drücken, zweitens, mit ihren Armutslöhnen auch die Löhne der anderen nach unten. Denn die Menschen am untersten Ende der Lohnpyramide sind mit denen in der Mitte auf schicksalhafte Weise verbunden.

Angekündigter Stellenabbau bei Konzernen in den Industriestaaten
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Angekündigter Stellenabbau bei Konzernen in den Industriestaaten

Einer der großen Irrtümer unserer Tage liegt darin zu glauben, dass die Millionen von Wanderarbeitern in China und die Tarifangestellten in Wolfsburg und Detroit nichts miteinander zu schaffen hätten. Das scheint so, aber so ist es nicht. Der eine kennt die Autostadt Wolfsburg nicht und der andere hat nur eine vage Vorstellung davon, was es heißt, ein Wanderarbeiter zu sein. Dennoch sind ihre Biografien auf das Engste miteinander verbunden.

Der Wanderarbeiter, der oft in käfigähnlichen Verschlägen wohnt und ohne rechtliche Absicherung in der Zulieferfirma einer chinesischen Autofabrik seiner Arbeit nachgeht, konkurriert mit dem festangestellten, aber ungelernten Arbeiter eben dieser chinesischen Fabrik. Die Löhne von beiden sind in Sichtkontakt zueinander, weil der Wanderarbeiter sich nichts dringender wünscht, als den Job des chinesischen Festangestellten zu übernehmen. Die örtlichen Unternehmer sind in der dauernden Versuchung, den einen gegen den anderen auszuspielen. Beide sind, ob sie wollen oder nicht, erbitterte Lohnkonkurrenten.

Natürlich bemüht sich der Hilfsarbeiter, dieser Lohnkonkurrenz zu entkommen. Er will zum Facharbeiter der chinesischen PKW-Fabrik aufsteigen, mindestens das. Überstunden, Fortbildungskurse, Lohndisziplin: Er ist bereit, dafür vieles zu tun. Hauptsache, er kann künftig der privilegierten Kaste junger und gut ausgebildeter Chinesen angehören. Was der Wanderarbeiter für ihn ist, ist er für den angestammten Facharbeiter, ein beinharter Rivale nämlich. Er wird jeden noch so niedrigen Einstiegslohn akzeptieren, zumal keine Interessenvertretung bereitsteht, ihn davon abzuhalten.

Wenn er den Aufstieg geschafft und ein paar Jahre Berufserfahrung gesammelt hat, wird er zum Gegenspieler der Autobauer im Westen. Persönlich ist man einander weiterhin fremd, ökonomisch hängt der eine mit dem anderen nun unwiderruflich zusammen. In den Computern der Vorstände sind Lohn und Leistung der beiden Kontrahenten gespeichert. Als Zahlenkolonnen begegnen sie sich. Bei jeder Investitionsentscheidung laufen sie gegeneinander.

Das Versprechen steigenden Wohlstands wird einkassiert

Auf dem neuen Weltarbeitsmarkt herrscht Arbeiterüberschuss. Mittlerweile sind 18 Millionen Europäer von Arbeitslosigkeit betroffen. Rechnet man die ins Privatleben abgedrängten Frauen und die Älteren dazu, die man gegen ihren Willen in den Ruhestand schickte, sind mehr als 30 Millionen Menschen arbeitslos. Dieses europäische Heer der Stillgelegten entspricht der Einwohnerschaft von Berlin, Paris, London, Madrid, Brüssel, Rom, Lissabon und Athen. Ulrich Beck nennt diese Menschen die "strukturell Überflüssigen".

Erst wenn man die Menschen mit den Nulllöhnen und die verbliebenen Arbeiter und Angestellten zusammen betrachtet, sieht man die tatsächlichen Schrumpflöhne in Europa. Wer nur die Noch-Beschäftigten betrachtet, bleibt blind. Die Lohnsumme aber fällt in Wahrheit deutlich schneller, als es uns die Einkommensstatistik weismachen will. Auf dem Weltarbeitsmarkt findet ein Lohnverfall statt, mit dem im Westen keiner gerechnet hatte. Steigender Wohlstand dank steigender Löhne, das war das Versprechen der Nachkriegsjahre. Es wurde über Nacht wieder einkassiert. Die Lohnkurven auf den Monitoren im Weltarbeitsamt zeigen für den Westen nach unten.

Arbeitszeit in effektiven Stunden
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Arbeitszeit in effektiven Stunden

Auf eine schnelle Anhebung der Einkommen in Fernost oder Osteuropa sollte niemand setzen. Die Löhne dort sind angesichts von Millionen Bauern und Slumbewohnern, die erst noch auf ihre industrielle Beschäftigung warten, selbst unter Druck. Das Lohnniveau in Fernost steigt deutlich langsamer, als es dem Westen recht sein kann. Selbst ein sofortiges Einfrieren der Löhne in Westeuropa bringt nicht viel, hat das Münchner Ifo-Institut errechnet. Bei gleich bleibendem Lohnanstieg in den Angreiferstaaten wären die Einkommen dieser Länder in 30 Jahren noch immer erst halb so hoch wie im Westen. Es ist derzeit so und nicht anders: Wer in Europa und Amerika seine Lohnhöhe mit nicht mehr begründen kann als dem Tarifvertrag, den teuren Lebensumständen und der westlichen Tradition des Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit, hat künftig keine Chancen, sich durchzusetzen.

Dabei geht der Welt keineswegs die Arbeit aus, wie gelegentlich zu hören ist. Solange nicht weniger, sondern mehr Waren erzeugt, verkauft und konsumiert werden, gibt es auch keine Arbeitsplatzverluste. Die Weltwirtschaft erlebt zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen der größten Wachstumsschübe der vergangenen Jahrzehnte. Die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse steigt weiter an, trotz Internet und Robotereinsatz. Nur die Verteilung der Arbeit hat sich im Zuge des Weltarbeitsmarkts entscheidend verändert. Der Ort ihres Wirkens interessiert nur noch den, der vergeblich seine Arbeitskraft anbietet und nun den Kürzeren zieht. Der Arbeitsmarkt wurde entgrenzt, derweil der westliche Arbeiter auf seiner Scholle kleben blieb.


Warum Deutsche auswandern... (aus FTD)

von Astrid Maier (Hamburg)

Den einen zieht es in die Schweiz, den nächsten nach Kanada. Eines haben deutsche Auswanderer gemeinsam: Sie finden in der Ferne attraktivere Arbeitsplätze. Auf FTD Online erzählen sie von ihren Erfahrungen. Haben auch Sie den Schritt ins Ausland gewagt?

Naturidylle und gut bezahlte Jobs: Die Schweiz ist zum begehrtesten Ziel für deutsche Auswanderer avanciert
Naturidylle und gut bezahlte Jobs: Die Schweiz ist zum begehrtesten Ziel für deutsche Auswanderer avanciert

Die meisten Menschen trauen sich ihr Leben lang nicht. Anna Korb* hingegen hat es schon zwei Mal gewagt. Als Kind kam die heute 33-jährige mit ihren Eltern aus der Ex-Sowjetunion nach Karlsruhe in die Bundesrepublik: Über 2000 Kilometer zogen die Korbs westwärts von den Füßen der Karpaten in der heutigen Ukraine vor die Tore des Schwarzwaldes. Es sollte kein Aufenthalt für immer in Baden werden. Im Januar 2006 verabschiedete sich Anna Korb auch aus der neuen Heimat.

Kinder können sich besser entwickeln

Ihr Ziel: Genf in der Schweiz. "Ich habe dort einen guten Job gefunden", lautet der Grund, warum die diplomierte Innenarchitektin zum zweiten Mal das Wagnis eingeht, komplett von vorne anzufangen. Und sie fügt hinzu: "Wenn ich sehe, dass meine Kinder sich dort besser entwickeln können, spielt der Wohnort für mich keine Rolle."

145.000 Deutsche packten 2005 auf der Suche nach einem bessern Leben ihre Koffer, so die Statistik. Was die Zahlen nicht sagen: Dies ist die höchste Abwanderung aus Deutschland seit 1954. Der Hauptgrund für die Auswanderungswelle sind bessere Arbeitschancen, gibt das Raphaels-Werk in Hamburg an. Die Einrichtung berät im Auftrag der Kirche und des Staates seit über 100 Jahren Ausreisewillige. Mehr als die Hälfte der Ratssuchenden gaben im vergangenen Jahr berufliche Gründe an, so das Raphaels-Werk.

Neben dem Job spielten auch die Aussichten der Kinder für deutsche Auswanderer eine Rolle, sagt Monika Schneid vom Raphaels-Werk. "Soziale Kälte, mangelnde Ausbildungs- und Berufsperspektiven und allgemein geringes Vertrauen in die Zukunft des Landes", seien weitere Gründe, sagt Schneid.

Der "amerikanische Traum" wirkt nach

Wie Korb zieht es dabei immer mehr Deutsche in die Schweiz. Das Land der Eidgenossen rückte im vergangenen Jahr sogar auf Platz Eins der beliebtesten Auswanderungsziele, die USA rutschten in der Gunst der Deutschen auf Platz zwei. Dennoch wirke "die Idee vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der amerikanische Traum" nach wie vor, sagt Beraterin Schneid.

  • Die Gesundheitsreform wird verschoben, die Mehrwertsteuer erhoben, Auszubildende abgelehnt - "Bin ich froh, nicht mehr in Deutschland zu leben", diesen Kommentar und ähnliche lesen wir immer wieder von FTD-Online-Lesern. Wir möchten mehr über unsere Leser im Ausland erfahren. Schreiben Sie uns über Ihre Erfahrungen mit dem Auswandern an Auswanderer@ftd.de
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Auch für die Auswanderer, die in Europa bleiben, sei die Entscheidung meistens vom Arbeitsplatz abhängig. Neben der Schweiz sind in Europa vor allem Österreich, Polen und Großbritannien beliebte Ziele deutscher Auswanderer. Ins Ausland zieht es vor allem Deutsche aus den alten Bundesländer oder aus Berlin. Nur 10.000 Deutsche aus den neuen Bundesländern zogen 2005 ins Ausland, so das statistische Bundesamt in Wiesbaden.

Korb gefällt in ihrer neuen Heimatstadt Genf vor allem das internationale Ambiente. Und dass die Menschen dort ihr etwas zutrauen - auch Fähigkeiten, die sie nicht unbedingt mit einem Diplom oder einer Urkunde beweisen kann.

"Der Anfang war schon verdammt schwierig"

"Ich habe die Stelle wegen meiner Sprachkenntnisse bekommen", sagt sie. Für ihren neuen Arbeitgeber, ein Immobilientrust, hat Korb nicht nur den Wohnort, sondern auch den Beruf gewechselt. Die Innenarchitektin, die zuvor über ein Jahr lang in Deutschland vergeblich nach Jobs gesucht hatte, arbeitet jetzt als Kundenbetreuerin. "Sie haben jemanden gesucht, der perfekt Deutsch und Russisch kann", so Korb lapidar.

Dennoch, das erste halbe Jahr "war schon verdammt schwierig", sagt sie über ihr neues Leben. So pendelte sie die ersten sechs Monate jedes Wochenende zu Mann und Kindern nach Karlsruhe, jetzt ist die Familie nachgekommen. Korb hat die neue Herausforderung im Job offenbar gut gemeistert: Ihr Arbeitgeber bezahlt ihr nun ein Fernstudium zum Trust Officer, fünf Examen à 2.200 Euro inklusive.

"Diese Möglichkeit, mich bei einem Arbeitgeber derart weiterzubilden, hätte mir in Deutschland niemand gegeben", sagt die Mutter von zwei Töchtern. Neben einem Bruttomonatsgehalt von knapp 3.800 Euro sieht sie noch einen entscheidenden Vorteil zum Leben in Deutschland: "Dass ich bereits zwei Kinder habe, war in der Schweiz eher von Vorteil, in Deutschland war das immer nur ein Hindernis".

Die Skyline von Vancouver: Auf manche Einwanderer wirkt Kanada wie ein "Erholungszentrum"
Die Skyline von Vancouver: Auf manche Einwanderer wirkt Kanada wie ein "Erholungszentrum"

Auch Markus Hoffmann* ist Vater zweier Kinder. Die 20 Monate und knapp vier Monate alten Töchter des Ostwestfalen wurden in Kanada geboren. "Das ist eher für die Daheimgebliebenen wie meine Eltern exotisch", sagt der 41-jährige Mathematikprofessor. Der Zufall habe ihn 1998 zunächst in die USA verschlagen, gerade hat er sich in der Nähe von Halifax im Westen Kanadas "ein Haus mit Aussicht" gekauft. Seine Töchter haben einen kanadischen Pass.

"Ich wollte eine Festanstellung"

Hoffmann ging damals für ein Postdoktorantenprogramm in die USA, dann nach Kanada, Vancouver. Schon die Ankunft am Flughafen habe ihn begeistert: Wasserfontänen und Indianerskulpturen erweckten bei ihm den Eindruck: "Das ist ja ein Erholungszentrum hier". Und auch die Freundlichkeit der Kanadier begeistert ihn bis heute: "In Deutschland wird man erst angemuffelt, in Kanada wird man erst angelächelt", sagt er. Letztlich gab aber ein anderer Grund den Ausschlag zu bleiben: "Ich wollte eine Festanstellung", sagt Hoffmann.

Die hat er nun als Professor an einer kleinen Universität im Westen Kanadas in der Nähe von Halifax. "Im angloamerikanischen Raum kann man sich auch als unerfahrener Wissenschaftler ohne Meriten beweisen und sich eine Festanstellung erarbeiten", sagt er. In Deutschland gebe es diese "Bewährungsmöglichkeit" so gut wie nicht.

Vor allem seine Frau sehne sich durchaus nach dem alten Leben in Deutschland zurück. "Als politisch interessierter Mensch kann man sich hier schon über so manches aufregen", sagt er. Den Abmeldeschein der Stadt Köln, wo er zuletzt in Deutschland wohnte, bewahrt Hoffmann im tragbaren Safe seines neuen Hauses auf. "Abgemeldet ins Ausland" steht da drauf. "So etwas ist für Papierangelegenheiten wichtig", sagt er. Ganz ohne Bürokratie geht es auch im Ausland nicht.

"Tausche Karriere gegen erfülltes Leben"

Laut dem New Oxford Dictionary of English bedeutet "Downshifting" den "Tausch einer finanziell attraktiven, aber stresserfüllten Karriere gegen eine weniger anstrengende, aber mehr erfüllende Lebensweise mit geringerem Einkommen". Die Bewegung, die ihren Namen in den neunziger Jahren bekam, hat ihren Weg in den Mainstream des britischen Lebens gefunden. Studien zufolge denken 40 Prozent aller Angestellten unter 35 Jahren über den Ausstieg nach. Bis 2007 sollen etwa 3,7 Millionen Briten "downshiften".
Von Frank Jahn, NDR London
Wenn im Wald von Oxford einer mit dieser Aussicht aufwacht, hat er zumeist den Weg vom Pub nicht nach Hause gefunden. Hugh Sawyer war in der Tat gestern lang unterwegs gewesen, aber verirrt hat er sich nicht. Der Angestellte lebt im Wald. Freiwillig. Seine Wohnung in London hat er aufgegeben. Zu viel Ballast, sagt er. Er hat das Wort Luxus aus seinem Leben gestrichen. "Downshifting" nennen das die Briten. "Zentralheizung, fließend Wasser und einen Toaster habe ich jetzt nicht mehr. Und Schränke für meine Sachen fehlen auch. Ich habe nur noch das, was ich tragen kann", sagt Sawyer. Dafür habe er aber Freiheit gefunden und eine Verbindung zur Natur. "Ich fühle mich glücklicher als je zuvor."
Schlafsack und Matter versteckt er im Baum. Dann muss er los. Hugh will den Bus nach London erwischen. Zur Arbeit. Er will mit wenig auskommen, ein Aussteiger ist er nicht. Hugh ist Auktionator bei Sotheby's. Hier duscht er und schlüpft in den Anzug, der frisch aus der Reinigung kommt. Die Ironie: Er verhilft anderen zu mehr Besitz und hat selbst gerade mal das Hemd am Leib.

Kein Konsumrausch, keine Karriere
Schuften für Shoppen. Das ist nichts für die so genannten Downshifter. Zweieinhalb Millionen Briten verzichten nicht nur auf Konsumrausch, sondern auch auf Karriere, sagen Umfragen. Sarah Stevenson hat London gegen Brighton getauscht. Sie verdiente als Werbefrau 6000 Euro im Monat. Bis sie bei einem Geschäftsessen die Sinnkrise bekam. "Ich wusste, er kann mich nicht leiden. Ich konnte ihn nicht ausstehen. Er war mein Kunde und beim Essen redeten wir über Geld, das nicht uns gehört, das von einer Tasche in die nächste wanderte. Ich dachte, was tue ich hier eigentlich mit meinem Leben? Ich hasse es, mit ihm hier zu sitzen. Und ich begriff, das ist nicht mein Ding."
Im Hafen von Portsmouth managt die 35-Jährige heute einen Spendenmarsch. Sie arbeitet nun für eine Hilfsorganisation und verdient damit halb so viel wie früher. Aber an der Küste lebt sie billiger und dieser Job ergibt für sie Sinn. Die Einnahmen helfen Kindern mit Hüftschäden. "Erfolg in meinem früheren Leben hieß, ich habe einen Werbevertrag perfekt gemacht. Es ging um Geld irgendwelcher Klienten. Das ist so oberflächlich im Vergleich. Das hier macht einen großen Unterschied. Deshalb fühle ich mich viel besser bei dem, was ich jetzt mache."

Zahl der Downshifter steigt
Eine Million Briten wollen sich allein im kommenden Jahr aus dem Trott von Überstunden und Selbstausbeutung verabschieden, schätzen unabhängige Studien. Für ihren Platz im Hamsterrad gibt es genug Arbeitssuchende, die gern auf Freizeit verzichten. Es sei nicht ökonomisch, meint Wirtschaftsprofessorin Diane Perrons aus ihren Jobstudien, wenn Angestellte jahrelang unter Dauerstress stehen und dann ganz hinwerfen. Den Downshifting-Trend sollten Bosse ernstnehmen, sagt sie. Zum eigenen Vorteil.
"Eine Auszeit nehmen, das sollte möglich sein. Angestellte sollten mal sechs Monate nicht in der Firma sein und dann zurückkommen können", sagt Perrons. So verliere die Firma nicht, was sie in den Mitarbeiter investiert hat. Und sie habe einen Angestellten, der zufriedener ist, weil er in Südamerika war oder eine Weltreise gemacht hat. Im Internet gibt es "Nationale Downshifting Wochen" für den Anfang. Versicherungskonzerne bieten Sparpläne für den Tag an, an dem man "ready" ist, reif fürs Downshifting.

Kein Drang mehr aufs Powershopping
Sarah Stevenson kann sich Powershopping und Wellness-Wochenenden nicht mehr leisten. Aber es ist der Sinn der Sache, dass sie das in ihrem neuen Leben nicht mehr braucht. "Früher stand ich früh auf, fuhr stundenlang zur Arbeit, war ewig im Büro. In einer sehr stressigen Umgebung. Das war allein körperlich schon nicht gut für mich. Ich habe viel Geld darauf verschwendet, mich zu erholen, besser zu fühlen. Der drastische Wechsel meines Lebensstils bedeutet, dass ich dafür mein Geld nicht mehr ausgeben muss."

Zimmer mit Aussicht
Auf Sparflamme wie Hugh muss ein Downshifter nicht leben. Der 33-Jährige hat den Verzicht auf die Spitze getrieben. Ein Jahr hält er es nun bereits im Wald aus. Hugh will nicht für immer ein Einsiedler sein. Die Liebe zur Natur muss die Traumfrau aber teilen. Wenn er mal ein Mädchen treffe, schwärme er, erzählt Hugh. Dann sagt er: "Ich wohne auf dem Land, tolle Aussicht, großer Garten, offenes Feuer. Vielleicht stehen da ja manche drauf. Wer weiß schon, was Frauen wollen."
Bei aller Lagerfeuer-Romantik warnt Hugh die Nachahmer: Im Winter gibt es im Wald keine warme Dusche. "Ich glaube, wer auch nur halb bei Verstand ist, zieht nicht in den Wald. Aber jeder kann auf seine Art in seinem Leben herausfinden, was ich gelernt habe: weniger ist viel mehr." Heute Abend bleibt Hugh mal zuhause und genießt, worauf selbst ein Downshifter nicht verzichten kann: Eine Tasse englischen Tees.
Stand: 11.09.2006 03:08 Uhr
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